„Wo Händewaschen unmöglich ist“ – unter dieser Überschrift
veröffentlichte Gangway e.V. (Berlin) im August dieses Jahres eine
Pressemitteilung, die auf die besonders prekäre und lebensbedrohliche Situation
von Menschen ohne Wohnung während der Pandemie verweist. Wohnungslosigkeit bedeutet für die Betroffenen nicht nur, dass sie
ungeschützt vor Witterung ihren Alltag im öffentlichen Raum bestreiten müssen,
was eine besondere gesundheitliche Belastung darstellt. Ohne eigenen Wohnraum zurechtkommen
zu müssen, heißt zudem, keinen Rückzugsort und Schutz vor Gewalt zu haben,
keinen Ort zur Essenszubereitung, zur Aufbewahrung von Kleidung, Medikamenten
und anderen wichtigen persönlichen Sachen oder für die Hygiene zu haben – mit
einer Reihe von Konsequenzen, die die Teilhabe an medizinischer Versorgung und
gesellschaftlichem Leben unmöglich machen.
„Stay at home“ – dieser Hinweis, sich vornehmlich im
privaten Raum aufzuhalten, den öffentlichen Raum weitgehend zu vermeiden und
die Kontakte zu anderen Menschen zu reduzieren, der als Schlüssel zur
Verhinderung der Ausbreitung des Virus und zum Schutz der eigenen Gesundheit gilt,
ignoriert die Lebensrealität der zunehmenden Zahl von Menschen, die kein
Zuhause haben.
Durch die Pandemie haben Menschen in Wohnungsnot einen erhöhten und besonders dringenden Unterstützungsbedarf, während gleichzeitig die Soziale Arbeit vor der nie dagewesenen Herausforderung stand und steht, ihre Hilfen unter den veränderten Bedingungen so anzupassen, dass sie möglichst umfassend weiterhin angeboten werden können. In einem Interview im Juli 2020 erklärt der Leiter der Tagesaufenthaltsstätte „Panama“ aus Kassel, Stefan Jünemann, dass er in dreißig Jahren Berufserfahrung im Feld keine vergleichbare Situation erlebt habe. Wie kann dem gesteigerten Beratungsbedarf begegnet werden in Zeiten, in denen Home-Office als die sicherste Variante der Arbeit empfohlen wird? Wie können haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende und Adressat*innen so geschützt werden, dass sie miteinander in Kontakt bleiben können? Wie kann weiterhin umfassend präventiv gearbeitet werden, wenn Wohnen durch Kurzarbeit und Jobverlust für viele Menschen kaum mehr leistbar ist? Wie können Angebote der existenziellen hygienischen und materiellen Versorgung aufrechterhalten werden, ohne dass zusätzliche finanzielle Mittel für den zwangsläufig erhöhten Aufwand zur Verfügung stehen?
Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe haben hier vielfach zusammen mit den politisch Verantwortlichen kurzfristige Lösungen gefunden – das zeigt auch der internationale Blick auf Europa. In einem ersten Monitoring verweist die FEANTSA[1] darauf, dass in vielen Ländern zusätzliche Notunterkünfte auch über den Sommer geschaffen wurden, in denen sich Betroffene zum Teil auch tagsüber aufhalten könnten, die Unterbringung in Hotels oder Hostels wurde ermöglicht und der Wohnraumverlust durch Zwangsräumungen konnte für einen kurzen Zeitraum verhindert werden. In vielen Bereichen steht dem gestiegenen existenziell notwendigen Unterstützungsbedarf jedoch ein reduziertes Angebot gegenüber. Niedrigschwellige Angebote wie Tagestreffs oder Mittagstische waren zu einem großen Teil geschlossen oder können auch aktuell nur sehr reduziert Hilfe und Unterstützung anbieten. Hinzu kam, dass die Mitarbeitenden zunächst nur mangelhaft mit Schutzkleidung und Atemmasken ausgerüstet waren und sind. Aufgrund von Behördenschließungen hatten und haben Betroffene Schwierigkeiten ihren ALG-II-Tagessatz zu erhalten oder dringend benötigte Ausweispapiere zu beantragen, die aber wiederum Voraussetzung zur Beantragung von Sozialleistungen sind. Einnahmequellen für wohnungslose Menschen sind versiegt: Das Sammeln von Pfandflaschen, der Verkauf von Straßenzeitungen und auch das Betteln war und ist in leergefegten öffentlichen Räumen mit Abstandsgebot kaum mehr möglich. Es ist sicherlich als ein positives Zeichen der Solidarität anzusehen, dass wohnungslose Menschen in einigen Städten Lebensmittelspenden erhalten haben, die von Mitmenschen an dafür vorgesehen Zäune gehängt wurden. Es bleibt allerdings ein fader Beigeschmack, wenn man sich vor Augen führt, dass solche Almosen nötig waren, um Menschen in Not das Überleben zu sichern.
Die Lebenssituation von Menschen in Wohnungsnot hat sich durch die Pandemie erheblich verschlechtert. Sie sind im verschärften Maße Gefährdungen ausgesetzt. Die Ursache dafür ist jedoch kein Virus, sondern sozial- und wohnungspolitische Versäumnisse, die in der aktuellen Krise wie durch ein Vergrößerungsglas[2] sehr viel deutlicher sichtbar werden. In einem Vortrag im Rahmen eines Webinars von FEANTSA konstatiert Ruth Owen im September 2020: „(The) Pandemic is confirming what we already knew.“
Ein menschenwürdiges und sicheres Leben sowie die körperliche und psychische Unversehrtheit sind ohne eigenen Wohnraum nicht möglich. Um allen Menschen dieses Grundrecht zu gewähren, ist ein wohnungspolitischer Paradigmenwechsel notwendig, bei dem Wohnraum nicht primär als Ware und Investition angesehen (und davon ausgegangen wird, dass der Markt es schon richten werde). Dass Wohnungen zu Spekulationsobjekten werden oder leerstehen, um maximalen Profit zu erwirtschaften, ist angesichts der Tatsache, dass Menschen auf der Straße überleben müssen, ein Missstand, den die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen zuletzt zum Tag der Wohnungslosen am 11.09.20 beklagt hat.
Der Winter naht und ein Ende der Pandemie ist nicht in Sicht. Notunterkünfte waren bereits unter normalen Bedingungen keine adäquate Antwort auf Obdachlosigkeit. Auf engstem Raum mit fremden Menschen unter zum Teil bedenklichen hygienischen Bedingungen die Nacht zu verbringen, morgens wieder raus in die Kälte und sich abends wieder für einen Schlafplatz anstellen zu müssen, stellt eine Zumutung dar, die von wohnungslosen Menschen und der Wohnungslosenhilfe gleichermaßen beklagt wird. In Berlin beginnt gerade, wie in vielen anderen Städten, die Saison der Kältehilfe. Die Berliner Obdachlosenhilfe e.V. blickt mit Sorge auf die kommenden Monate und hat auf Facebook unter dem Hashtag #WirWollenLösungen eine Reihe von Forderungen formuliert, die als akute Lösungen für das Überleben wohnungsloser Menschen notwendig sind und gleichzeitig auch nachhaltige Strategien über den Winter hinaus aufzeigen.
Die zahlreichen Stellungnahmen und Pressemitteilungen von sozialen und politischen Organisationen, die sich gegen Wohnungsnot und für das Recht auf Wohnen engagieren haben gezeigt, dass es an konkreten Strategien und Ideen für die Lösung der Missstände nicht mangelt. „Political will and ressources“, das ist es, was es laut Ruth Owen von FEANTSA braucht, um solche Strategien und Ideen erfolgreich umzusetzen.
Claudia Steckelberg (HS Neubrandenburg) und Gabriele Wawrok (Caritasverband für den Landkreis Donau-Ries e. V.)
[1] FEANTSA ist die European Federation of National Organisations Working with the Homeless.
[2] vgl. dazu auch: Horak, Gabi (2020): Entschleunigung am Arsch. In: an.schläge. das feministische magazin. 3/2020. URL: https://anschlaege.at/an-sage-entschleunigung-am-arsch/ (Abruf vom 02.10.2020)