Vor dieser Problemkulisse
hat der Deutsche Ethikrat am 23.6.2021 auf
seiner Jahrestagung „Wohl bekomms! Dimensionen der Ernährungsverantwortung“ die
Ernährung zum Thema gemacht. Dass es dringenden Bedarf zu einer solchen
Veranstaltung gibt, leuchtet völlig ein. Zu viel liegt im Argen – ökologisch,
sozial, ethisch, gesundheitlich. Zu vielfältig sind die Akteur_innen der
Steuerung unseres Essens, zu ungleich der Zugang zu Essen verteilt, zu
verwickelt die Interessenslagen, zu profitabel und riskant die weltweiten
Ernährungsgeschäfte. Angesichts dieses
komplexen Problembündels ist es begrüßenswert, über
Ernährungsverantwortlichkeiten in einer Gesellschaft gemeinsam nachzudenken, um
nachhaltige, faire, sichere, schmackhafte und gesunde Ernährungsverhältnisse
für die Zukunft zu gestalten.
Die Bevölkerungsgesundheit
beschäftigt Regierungen schon lange. Und die Frage der Ernährung war dabei
schon immer prominent. War es zunächst vor allem die Not, die Bevölkerung
überhaupt ausreichend satt zu bekommen (um starke Arbeitskräfte und Soldaten zu
haben oder auch Revolten zu verhindern), liegt das Problem heutzutage
bekanntlich ganz woanders. Seit vielen Jahren wird davor gewarnt, dass Menschen
zu viel und Ungesundes essen, sich dazu auch noch zu wenig bewegen, dass sie
dicker werden und dass ernährungsbedingte Krankheiten dramatisch zunehmen, was die
Volkswirtschaft schädigt.
Dazu gesellt sich in
jüngerer Zeit ein weiteres Problem-Narrativ. Im Zuge der wachsenden Besorgnis
zur Klimakrise werden auch der ökologische Raubbau an Böden, Wasser und Luft
durch die globalisierte Agrarindustrie, der Hunger in den Ländern des globalen
Südens, Ausbeutungsverhältnisse in der Landwirtschaft und Tierqualen bei der
Fleischproduktion öffentlich skandalisiert und kritische Umwelt-, Tierschutz-
und Food-Bewegungen mahnen eine ‚Ernährungswende‘ an.
Doch
beim Blick auf das Tagungsprogramm, schnurrt diese Komplexität dann zusammen. Beklagt
wird, dass zwar nach Befunden des Ernährungsreports des Bundesministeriums für
Ernährung und Landwirtschaft von 2019 das „Bewusstsein für eine gesunde
Ernährung in der Bevölkerung gestiegen“ ist, dass aber das Ernährungsverhalten
dem nicht entspricht. Dazu heißt es weiter: „Die Zahlen überraschen und sind
zugleich Ausdruck einer Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Realität, die auch
Fragen nach der angemessenen Ernährungskommunikation, Ernährungsbildung und
Regulierung aufwirft. Der Deutsche Ethikrat wird sich auf seiner Jahrestagung
mit der Bedeutung der „Ernährungsverantwortung“ im Spannungsfeld von
Selbstregulation und Steuerung beschäftigen. Im Mittelpunkt der Veranstaltung
steht die Frage, wie sich Ernährungsverantwortung im 21. Jahrhundert verstehen
und gestalten lässt und welche Rolle verschiedene gesellschaftliche Akteure in
der Vermittlung und Durchsetzung geeigneter Maßnahmen
zur Förderung einer gesunden Ernährung spielen.“
Es geht den Tagungsveranstalterinnen
offenbar vor allem um eines – nämlich um die Responsibilität und Responsibilisierung
der Individuen und die knifflige Herausforderung, wie Individuen dazu befähigt
werden, der moralischen Verantwortung gerecht zu werden. Auch wenn gleich zu
Beginn der Tagung auf multiple Verantwortlichkeiten zur Sicherung der
Bevölkerungsgesundheit verwiesen wurde, auch wenn im weiteren Verlauf Positionen
sichtbar wurden, die stärker Politik und Unternehmen in die Verantwortung nehmen
wollen, und auch wenn im Schlusspodium das vorgestellte Modell der
Verantwortungsteilung, das 50 % beim Verbraucher verortete, 30 % bei
Unternehmen und 20 % bei der Politik, Widerspruch erntete, blieb doch die Idee
der besonderen Relevanz des Individuums für Veränderungen letztlich dominant. Immer
wieder war zu hören, wie wichtig Bildung, Aufklärung und differenzierte
Lebensmittelinformationen sind, um „Konsumtugenden“ – so eine Referentin –
auszubilden.
Das Individuum wird damit
exponiert als entscheidender Akteur, der es mit seinem Konsumverhalten und seiner
Lebensführung in der Hand hat, wie die eigene Gesundheit, volkswirtschaftliche Prosperität,
Umwelt- und Tierschutz aussehen. Die Kulturwissenschaftlerin und langjährige
Vorsitzende von Slow Food Deutschland, Ursula Hudson, sprach deshalb einmal ketzerisch
von den Individuen als ‚schlafenden Riesen‘ der Weltenrettung: „Die Verbraucher
sind machtvoll, zusammen eigentlich unschlagbar. Wenn sie als kollektiver
Akteur das Richtige tun, können sie gemeinsam Großes vollbringen und die
Industrie auf den richtigen Kurs zwingen.“
Dieses idealistische Menschen-
und Weltbild schließt unmittelbar an sozialinvestive Steuerungslogiken der
neoliberalen Gesellschaft an, nach denen die Bevölkerung zum persönlichen und
gesamtgesellschaftlichen Wohle die eigene Lebensweise selbstverantwortlich zu optimieren
hat. Es gibt den Weg frei, um all jene zu diskreditieren, die aus dieser Norm
fallen – die Mütter, die ihren Kindern Softdrinks und Chips geben statt
Mineralwasser, Bio-Reiscräcker und Möhren, die Jugendlichen, die sich bei MC
Donald‘s treffen, die Männer, die trotz aller Warnungen weiterhin Currywurst
und Pommes in der Kantine bevorzugen, die Familien, die nicht mehr selbst
kochen, sondern nur Convenience Food auftischen und vor dem Fernsehen essen
statt am trauten Familientisch – und natürlich nicht zu vergessen: die Dicken
als besonders prominente Zielscheibe solch scheinbar völlig legitimer
Stigmatisierungen.
Missachtet wird auch die
Macht der (Ungleichheits-)Verhältnisse, die es nicht allen Individuen in
gleicher Weise möglich macht, diesen gesellschaftlichen Normalitätsstandards zu
genügen. Die erwünschten persönlichen Investitionen sind schließlich immer eine
Frage vorhandener Ressourcen, die grundsätzlich ungleich verteilt sind. Und sie
tragen immer sozialdistinktive Symboliken in sich. Soziolog_innen wie Pierre
Bourdieu und Eva Barlösius haben uns eindrucksvoll gezeigt, wie eng
Ernährungsweisen mit dem sozialen Habitus und der gesellschaftlichen Position
verknüpft sind. Gesundes Essen ist nicht sozial neutral, sondern Ausdruck der
hegemonialen Ansprüche privilegierter sozialer Fraktionen.
Sehr unverblümt zeigt sich
diese soziale Ignoranz im Teaser des Deutschlandfunks zur Tagung, in dem ein Philosoph,
Referent der Tagung, interviewt wird. Da ist dann davon die Rede, dass
Selbstverantwortlichkeit untrennbar gebunden ist an die Mitverantwortlichkeit
für andere und dass durch die „Unverantwortlichkeit von Individuen“ das
„Gemeinwesen in Mitleidenschaft“ gezogen wird. Und am Ende sind es die Armen, denen
fehlende gesellschaftliche Solidarität nachgewiesen wird. Auf den Einwand des
Journalisten, dass gesunde Ernährung in Armutsverhältnissen schwierig ist, wird
geantwortet, „dass es häufig eine Frage der Werte ist und des Werterankings,
man kann sich alles Mögliche leisten und auch bei den ärmeren Menschen, Alkohol
und Zigaretten, das funktioniert, aber höherwertige Ernährung ist nicht drin …
nach meiner Erfahrung ist es eine Ausrede, das kann ich mir nicht leisten“.
Dass ein solches ‚Shaming‘ möglich
ist und wissenschaftlich redlich erscheint, macht sprachlos, offenbart aber
auch die ‚dunklen Seiten‘ hinter der so konsensfähigen Propagierung von „Maßnahmen
zur Förderung einer gesunden Ernährung“: Wer sich trotz dieser Fördermaßnahmen
ungesund verhält, ist selbst schuld und hat das Recht auf soziale Anerkennung und
Solidarität verwirkt. Die Kaprizierung auf jene deprivilegierte
Bevölkerungsgruppe ist nicht nur üblich und einfach, sie sorgt auch dafür,
nicht nach der gesellschaftlichen Solidarität bei Lebensmittel- und
Agrarkonzernen (auf der Tagung durfte sich auch eine Öffentlichkeitsreferentin
von Nestlé ungehindert breit machen), bei Wirtschaftslobbyist_innen,
politischen Funktionsträger_innen und anderweitigen mächtigen Institutionen und
Individuen zu fragen.
Im Interesse der Tagung an
der „Durchsetzung geeigneter Maßnahmen zur Förderung“ gesunder Ernährung
spiegelt sich der Wunsch nach menschlicher Formbarkeit durch Anleitung zu
‚richtigen‘ Lebensführungsführungsweisen wider. Darin verbirgt sich nicht nur
eine Praxis der Bemächtigung von Menschen, sondern es steht auch in
grundsätzlicher Spannung zu emanzipatorischen Bildungszielen einer liberalen
Gesellschaft. Das Anliegen, die menschliche Diskrepanz zwischen „Bewusstsein
und Realität“ korrigieren zu wollen, spricht Menschen letztlich ab, über das
eigene Essen als Privatsache autonom zu entscheiden. Aber muss eine
demokratische Gesellschaft nicht Diversität wollen und aushalten – nicht nur
beim Essen und bei den Körpern?
So besehen hat die Tagung
des Ethikrates mit ihrer Fokussierung auf die Subjektverantwortung und die
individuelle Körpergesundheit dem Vorschub geleistet, was seit geraumer Zeit in Soziologie, Philosophie, Sozialarbeitswissenschaften, Public
Health-Wissenschaften und Fat Studies unter dem Begriff des ‚Healthismus‘
kritisch verhandelt wird. Gemeint ist damit eine ‚Gesundheitspflicht‘ für die
Bevölkerung, deren ‚Zwangscharakter‘ über einen gesellschaftlichen Konsens moralisch
organisiert wird und mit der Gesundheit entpolitisiert und stattdessen
ausschließlich als persönliche Verhaltenslast und Schuld konzipiert wird.
War es nur konzeptionelle
Schwerpunktsetzung, Unkenntnis oder politisch-strategisch so gewollt, die
Tagung des Deutschen Ethikrates zu den „Dimensionen der Ernährungsverantwortung“
in dieser diskursverengenden Weise stattfinden zu lassen? Ich hätte mir jedenfalls
anderes gewünscht – mehr wissenschaftliche Interdisziplinarität, mehr
Beteiligung der kritischen Stimmen aus der gouvernementalitätskritischen
Forschung, den Public-Health-Wissenschaften, den Sozialarbeits- und
Erziehungswissenschaften. Und ich hätte mir schließlich eine Erweiterung des
Gesundheitsbegriffes gewünscht, der Gesundheit nicht mehr allein als medizinische
Körperkategorie der neoliberalen Selbstoptimierungsgesellschaft, sondern als
Qualität gesellschaftlicher Verhältnisse mit planetarer Überlebensrelevanz begreift.
Das bundesweite
Netzwerk „Essenspaed. Erziehungswissenschaftler_innen machen das Essen zum
Thema“ hat eine kritische Stellungnahme zu dieser Veranstaltung veröffentlicht,
dem sich die Redaktion des „Jahrbuches für Kritische Medizin“ und die
„Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung angeschlossen haben“ (Link zur Stellungnahme).
Mehr Infos zur Jahrestagung
des Deutschen Ethikrates 2021 finden Sie hier.
Der erwähnte Interview
im Deutschlandfunk findet sich hier.
Prof. Dr. Lotte Rose (Frankfurt University of Applied Sciences)
Als Vortragende auf der
Tagung blieb auch bei mir der Eindruck haften, dass Änderungsmöglichkeiten
vorwiegend im individuellen Ernährungsverhalten gesucht werden. Mehrfach
erwähnten Vortragende die Kennzeichnung von Lebensmitteln mit dem Ampelsystem
als positives Beispiel, da sie es vermeintlich jedem Einzelnen ermöglicht, die ‚richtigen‘
Lebensmittel auszuwählen. Im „Forum
C – Medien/Internet: Einfluss auf Essverhalten, Körperbilder und Konsum“, an
dem ich mitwirkte, versuchten wir den Blick zu weiten und strukturelle
Hintergründe einzubeziehen – beispielsweise wirtschaftliche Interessen hinter
Werbekampagnen und der Aktivität von Influencer:innen. Wir brauchen Diversität
in Körperbildern, die Abkehr vom schlank-fitten Körperideal und der
Stigmatisierung entlang des Körpergewichts. Dazu müssen wir nicht nur
vorherrschende Körperideale, sondern unsere Wertsetzungen generell
hinterfragen: Körper und Aussehen dürfen kein wesentliches Definitionsmerkmal
sein.
Prof. Dr. Eva Wunderer (Hochschule Landshut I University of Applied Sciences)