Die Überschrift bildende Frage ist so simpel gestellt und doch kompliziert zu beantworten. Denn mindestens drei verschiedene Ebenen können herangezogen werden, wenn man diese Frage beantworten will. Eine wissenschaftstheoretische Antwort, eine strukturell-institutionelle Antwort sowie eine (wissenschafts)-politische Antwort. Und schnell merkt man, dass es nicht zwangsweise reicht, wenn eine zufriedenstellende Antwort auf nur einer Ebene gegeben wird. Also sortieren wir ein wenig.
Die wissenschaftstheoretische Antwort
Die wissenschaftstheoretisch fundierte Antwort auf die Frage, seit wann es die Wissenschaft Soziale Arbeit gibt, lautet: seit rund 100 Jahren und damit seit Beginn der institutionalisierten professionellen Ausbildung. Die Argumentation ist hier relativ einfach. Jede Wissenschaft braucht (1) eigene Theorien und diese müssen sich (2) auf einen abgrenzbaren Gegenstand beziehen. Lassen sich diese beiden Kriterien für die Wissenschaft Soziale Arbeit als erfüllt feststellen, muss man nur noch fragen, seit wann diese erfüllt werden.
Also: Mein Verständnis des Formalobjekts der Sozialen Arbeit lässt sich mit „Verhindern und Bewältigen von sozial problematisch angesehenen Lebenssituationen“ benennen. Damit bin ich nicht alleine. Es ließen sich jetzt eine zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aufzählen, die den Gegenstand der Sozialen Arbeit in dieser oder einer ähnlichen Weise definiert haben oder deren Definition bei genauerem Hinsehen, eben auch die genannten Komponenten enthält. Nehmen wir aber an dieser Stelle bewusst einen Vertreter, der der Propagierung einer eigenständigen Wissenschaft Soziale Arbeit eher unverdächtig ist, weil ihm aufgrund seiner disziplinären Herkunft (Erziehungswissenschaft/Pädagogik) und akademischen Verortung (Universität) keine Nebeninteressen unterstellt werden können.
Hans Thiersch schrieb in der Auflage von 1996 des Wörterbuch Soziale Arbeit: „Sozialarbeit hat zum Gegenstand Probleme der Unterprivilegierung, der fehlenden materiellen Ressourcen, also der Armut und der Unterstützung in belasteten, unterprivilegierten, ausgegrenzten Lebensverhältnissen. (...) Sozialpädagogik versteht sich als ein Moment der spezifisch neuzeitlichen gesellschaftlichen Reaktion auf die ,Entwicklungstatsache‘ (Bernfeld 1970). Sie zielt – begründet im besonderen Entwicklungs- und Lernstatus der Kinder – auf Hilfs-, Erziehungs- und Bildungsangebote für Kinder, Heranwachsende und ihre Familien in ihrem Lebensfeld und dabei zunächst auf kompensierende Angebote in belasteten Lebensverhältnissen. (...) Den Problemen angemessen ist allein die unterschiedliche Traditionen integrierende Handlungswissenschaft Soziale Arbeit“ (Thiersch 1996, 619f.).
Allein an diesem Zitat wird deutlich, dass der Gegenstand der Sozialen Arbeit eben nicht gleich dem der Erziehungswissenschaft, der Soziologie, der Psychologie, etc. ist, sondern etwas Eigenes abbildet. Damit ist der erste Schritt erfolgt. Bleibt die Frage, seit wann von dem Gegenstand der Sozialen Arbeit in dieser Art und Weise – Verhindern und Bewältigen sozial problematisch angesehener Problemlagen – und dessen wissenschaftlicher Bearbeitung gesprochen werden kann. Und da muss man auch nicht lange suchen. Schon die Pionierinnen der Sozialen Arbeit (Addams, Arlt, Richmond, Salomon, etc.) haben sich in ihren wissenschaftlichen Arbeiten auf Gegenstände bezogen, die dieser Kurzformel des abgrenzbaren Formalobjekts entsprechen. Und ja, dass waren wissenschaftliche Arbeiten. Wer dies nicht glaubt, sollte die Bücher der Pionierinnen einmal im Original lesen.
Die erste Antwort lautet also: Aus wissenschaftstheoretischer Sicht gibt es die Wissenschaft Soziale Arbeit seit gut 100 Jahren.
Die strukturell-institutionelle Antwort
Die strukturell-institutionelle Antwort hingegen lautet seit rund 30 bis 35 Jahren und damit seit Beginn eines neuen „Selbstbewusstseins“ Sozialer Arbeit an Fachhochschulen. Ausgangspunkt hierbei sind mit Sicherheit die „Empfehlungen zur Aufgabe und Strukturen der Fachhochschulen“ des Wissenschaftsrates von 1981. In diesen wurde der Forschungsauftrag der FHs nochmals betont. Für die Soziale Arbeit dauerte es noch ein wenig, bis sich dieses Selbstbewusstsein auch in konkrete inhaltliche Reformen und Forderungen niederschlug. Aber spätestens seit Mitte der 1990er hat sich Soziale Arbeit an den FHs von den Bezugswissenschaften zu emanzipieren begonnen und die eigenständige Formulierung einer Sozialarbeitswissenschaft/Wissenschaft Soziale Arbeit erfolgte. Das war kein „Zwergenaufstand“, sondern die logische Fortführung eines Bedeutungswandels und neuer Aufgabengebiete der Fachhochschulen. Wo disziplinär geforscht wird, entwickelt sich eine Wissenschaft.
Die zweite Antwort lautet also: Aus strukturell-institutioneller Sicht gibt es die Wissenschaft Soziale Arbeit seit gut 30 bis 35 Jahren.
Die wissenschafts-politische Antwort
Um die Frage, wann Soziale Arbeit auch wissenschafts-politisch anerkannt wurde und sie es deshalb „gibt“, zu beantworten, muss man zwei unterschiedliche Blickwinkel einnehmen. Zum einen gibt es die politischen Akteure, die die Rahmenbedingungen für Wissenschaft definieren. Da Bildung in Deutschland Ländersache ist, sind hier vor allem die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) sowie die Kultusministerkonferenz (KMK) von Bedeutung. Zum anderen organisiert sich Wissenschaft auch selbst. Und diese Wissenschaftsorganisationen – seien es akademische Fachgesellschaften oder Forschungsförderorganisationen – machen auch Politik. Es wäre naiv zu glauben, dass alle Äußerungen, Stellungnahmen und Entscheidungen dieser Organisationen nach rein wissenschaftlichen Kriterien getroffen werden. Aus diesem Grund soll die wissenschafts-politische Antwort zweigeteilt sein.
Die (wissenschafts-)politische Antwort lautet: es gibt die Wissenschaft Soziale Arbeit seit dem 3.7. bzw. 11.10.2001. Es mag jetzt ein wenig überraschen, dass hier zwei konkrete Tage benannt werden. Aber dennoch: an diesen Tagen haben die HRK bzw. KMK die Wissenschaft Soziale Arbeit explizit als Fachwissenschaft und wissenschaftliche Grundlage für das Studium der Sozialen Arbeit anerkannt. Denn an diesen Tagen wurde die „Rahmenordnung für die Diplom-Prüfung im Studiengang Soziale Arbeit“ jeweils von der HRK und KMK verabschiedet.
In dieser heisst es: „Die Prüfungsgebiete folgen nicht der Gliederung der üblichen Wissenschaftsdisziplinen (Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Rechtswissenschaft usw.), sondern gehen davon aus, dass die heute der Sozialen Arbeit zugrunde liegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse/Theorien und Methoden unter dem Begriff einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit zusammengefasst werden können, auch wenn diese wissenschaftspolitisch nicht allseits anerkannt ist und sich noch nicht institutionalisiert hat.“
Eindeutiger kann man es nicht formulieren.
Deshalb bleibt alleinig noch die wissenschafts-(politische) Antwort offen: Wann erkennen die wissenschaftlichen Selbstverwaltungsorganisationen – vor allem die DFG – die Wissenschaft Soziale Arbeit an? Und hier sieht es nicht so gut aus. Ein Antrag auf Aufnahme der Wissenschaft Soziale Arbeit in die DFG-Fächersystematik durch die DGSA wurde 2018 gestellt und abgelehnt. Das hat aber etwas mit strukturellen politischen Fragen zu tun und nicht mit wissenschaftstheoretischen. Aber es bleibt zu konstatieren, dass eine Wissenschaft, die von der institutionellen Forschungsförderung zum großen Teil abgeschnitten ist, es schwierig hat, sich weiter zu entwickeln.
Wissenschaft braucht Forschung(sförderung)!
Aus diesem Grund hat der Vorstand der DGSA eine aktuelle Stellungnahme herausgegeben, in der die zentralen Forderungen zur Förderung von Forschung in der Sozialen Arbeit zusammengestellt sind und argumentativ begründet werden.
Sie finden die Stellungnahme hier. Der Vorstand der DGSA freut sich, wenn diese möglichst weit verbreitet wird, wenn Sie mit politischen Entscheidungsträger*innen in Ländern und im Bund zum Thema Forschung sprechen.
Prof. Dr.
Stefan Borrmann