Und dazwischen - die Lücke: Bedeutung von Genderwissen in der Sozialen Arbeit

Wir sind auf dem Weg ins Feld, zwei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Fachbereichs Soziale Arbeit einer Hochschule für angewandte Wissenschaften. Wir wollen Kooperationspartnerinnen bei der Kreisverwaltung im ländlichen Raum interviewen. Es geht um die Frage: Wie kann die Öffentlichkeitsarbeit im Landkreis verbessert werden, um eine Sensibilisierung der Bevölkerung zum Thema Gewalt in Paarbeziehungen älterer Frauen und Männer (60+) zu erreichen? Dort angekommen, haben wir noch etwas Zeit bis das Interview beginnt und stehen im Vorraum vor drei Regalen mit Flyern und Broschüren, von denen wir uns einige mitnehmen. Erst als wir ein paar Schritte zurücktreten, fällt uns auf: Das Regal links richtet sich an Frauen. Hier finden sich Informationen zu Mutterschaft, Elternzeit, Kindern, frauenspezifischen Krankheiten und zu Hilfeangeboten bei häuslicher und sexueller Gewalt. Das Regal rechts ist überschrieben mit „Informationen für unsere älteren Mitbürger“. Darunter finden sich Flyer und Broschüren zu Pflege, Wohnheimen, Freizeitangeboten und weiteren auf Rentner*innen bezogene Themen und Angebote. Dem Thema Sicherheit und Gewalt ist eine ganze Reihe gewidmet, aber beide Themen werden in diesem Material, das die Gruppe der Älteren mit Schrift und Bild explizit anspricht, nur im Kontext von unbekannten Täter*innen und Delikten wie z.B. Trickbetrug und Diebstahl thematisiert. Das Regal in der Mitte enthält allgemeine Informationen zum Landkreis.

Für uns ist das Arrangement dieser Regale wie ein Symbol für das Spannungsfeld, in dem wir uns mit unserem Forschungsthema bewegen: Alter und Partnergewalt - und dazwischen eine Lücke.

 

Nicht im Fokus: Gewalt in Paarbeziehungen Älterer (60+) 

Empirische Studien zeigen, dass jede vierte Frau von 16 bis 85 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner erlebt. Die Studien, die ältere Frauen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, zeigen, dass physische, psychische und sexuelle Gewalt in langjährigen Gewaltbeziehungen auch mit fortschreitendem Alter nicht endet bzw. auf Grund verschiedener Faktoren wie Verrentung, nachlassender Gesundheit und sozialer Isolation, von den Täter*innen ausgeübt und den Opfern erduldet wird. Zugleich ist die Gruppe der betroffenen älteren Frauen (und auch Männer) nur unzureichend über die Einrichtungen des Gewaltschutzes informiert und wird von diesen kaum erreicht. Und selbst wenn sie die Beratungsstellen kennen, fühlen sie sich oft nicht von den Angeboten angesprochen. „Ich weiß, dass es ein Frauenhaus gibt“ sagte uns eine ältere Gesprächspartnerin, „aber das ist doch nicht für uns! Das ist für jüngere Frauen mit Kindern“. Während Gewalt in der Pflege älterer Menschen seit den 2000er Jahren zunehmend enttabuisiert und skandalisiert wurde, steht die Problematik der Gewalt in Paarbeziehungen älterer Frauen und Männer (60+) kaum im Bewusstsein der (Fach) Öffentlichkeit. Mit unserem Anliegen, für Gewalt in Paarbeziehungen älterer Frauen und Männer zu sensibilisieren, stoßen wir bei Gesprächspartner*innen oft zunächst auf Unkenntnis und manchmal auch auf Abwehr. Dass ältere Menschen „immer noch“ von Gewalt in der Paarbeziehung betroffen sein sollen, das können (oder wollen) sich viele nicht vorstellen. Es ist schlicht nicht im Fokus.

 

Geschlechtervergessenheit

Gewalt gegen ältere Menschen wird vor allem als Gefahr „von außen“ und durch Fremde wahrgenommen. Insbesondere die Polizei ist hier mit Information und Aufklärung sehr aktiv. Wenn Gewalt gegen Ältere im sozialen Nahraum thematisiert wird, dann meist im Kontext häuslicher oder stationärer Pflege. Die Maßnahmen zur Prävention und Intervention sind entsprechend ausgerichtet auf Schulung, Beratung und Unterstützung der Pflegenden (Angehörigen) mit dem Ziel der Entlastung, da die Überlastung aller Beteiligten als einer der Hauptfaktoren für die ausgeübte Gewalt gesehen wird. Vor diesem Hintergrund kann also nicht gesagt werden, dass Gewalt gegen Ältere grundsätzlich mit Gleichgültigkeit und Untätigkeit begegnet wird. Wenn allerdings eine der insbesondere für Frauen gefährlichste Form der Gewalt, die Gewalt in der Paarbeziehung, die von den Vereinten Nationen ausdrücklich als Menschenrechtsverletzung benannt wird, für die Gruppe der Älteren ausgeklammert und im Kontext Pflege nicht berücksichtigt wird, muss eine Geschlechtervergessenheit bzgl. Alter(n) festgestellt werden. Und es müsste gefragt werden: Wer pflegt hier wen? Und besteht Alter nur aus Pflegebeziehungen? Was ist mit den Paaren, die nicht oder erst im Kontext Pflege in den Fokus der Fachkräfte geraten? Und wie fallen - sprichwörtlich - Interventionen aus, wenn wir Genderaspekte bei Gewalt gegen Ältere Menschen nicht berücksichtigen?


Wissens- und Versorgungslücke

Mit Blick auf die Fachkräfte in den für die Zielgruppe der Älteren relevanten Bereichen der Altenhilfe, Gesundheit, Frauen und Gleichstellung und Gewaltschutz möchten wir einige Aspekte herausgreifen: 

Wissen und Bewusstsein: Wird das (Fort)bestehen von vitalen, auch konflikthaften Paarbeziehungen im Alter nicht gesehen und werden sich fortsetzende und kumulierende Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis im Alter nicht erkannt (vom Gender Pay Gap zum Gender Renten Gap bspw.), gerät die Gruppe der älteren Frauen nicht nur aus dem Blick des Gewaltschutzes (im Fokus der Öffentlichkeitsarbeit sind überwiegend „Frauen mit Kindern“ d.h. implizit Frauen im reproduktiven Alter auch wenn ältere Frauen nicht explizit ausgeschlossen werden). Sie werden auch bei Maßnahmen der Gewaltprävention für Ältere nicht berücksichtigt (z.B. keine Nennung von Einrichtungen des Gewaltschutzes wie Frauenhaus, Frauenberatungsstellen oder Täterberatung in Seniorenwegweisern etc.). 

Kompetenzen und Vernetzung: Die Motivation zur Intervention bei Gewalt in Paarbeziehungen Älterer steht in einem engen Zusammenhang mit den Handlungskompetenzen der Professionellen und den strukturellen Bedingungen ihrer Arbeitsfelder. So gibt es nur wenig auf die spezifischen Bedarfe älterer Frauen ausgerichteten Schutzeinrichtungen. Und es gibt selten Notbetten für eine_n auf Hilfe angewiesene_n Täter*in, der_die der Wohnung verwiesen werden soll. Die für die Zielgruppe Älteren relevanten Bereiche - Altenhilfe, Gesundheit, Frauen und Gleichstellung, Gewaltschutz – haben bzgl. ihrer Angebote und Aktivitäten entweder das Thema Gewalt in Paarbeziehungen oder die Gruppe der Älteren nicht ausreichend im Blick. Eine Vernetzung und Kooperation dieser Bereiche würde dazu beitragen, die Versorgungslücke für die Zielgruppe der Betroffenen zu schließen. Zudem könnten die einzelnen Bereiche auch von Synergieeffekten aus einer Kooperation und Vernetzung sowie der jeweiligen hohen aber oft spezifischen Fachlichkeit profitieren.

Adäquate Analyse und Interventionen: Besteht bei den Fachkräften kein Wissen über das Phänomen von Gewalt in Paarbeziehungen generell sowie als Form geschlechtsbezogener Gewalt gegen Frauen und erfolgt die Analyse eines Gewaltverhältnisses ohne Berücksichtigung des Geschlechterverhältnisses, so bleibt die Analyse eine vorläufige und damit können die Interventionen ggf. zu kurz greifen. Das kann bedeuten, dass allgemeine Seniorenberatungsstellen Einrichtungen des Gewaltschutzes nicht oder zu spät hinzuziehen. Oder mit Blick auf die Pflege, dass das Gewaltgeschehen nur als Folge von Überforderung durch Pflegearbeit oder dementieller Erkrankung betrachtet wird. Das kann zu Entlastungsangeboten für einen oder beide Partner*innen führen. Im Fokus steht dann ein weiteres (als funktionierend empfundenes) Zusammenleben eines Paares durch kleinere Auszeiten zu ermöglichen. Allerdings wird so die Dynamik einer (oft langjährigen) Gewaltbeziehung, die ambivalenten Haltungen und Abhängigkeiten der Betroffenen und der Täter*innen sowie eine eventuell akute und lebensbedrohliche Gefährdung nicht erfasst. Laut der Statistik des Bundeskriminalamtes für das Jahr 2018 wurden 122 Frauen von ihrem (Ex)Partner getötet. Eine Reportage der „Zeit“ dokumentiert die Hintergründe zu den Taten und meist auch das Alter der getöteten Frauen und der Täter. Nach diesen Recherchen waren 16 der getöteten Frauen älter als 60 Jahre, 7 davon älter als 80. Die älteste Frau war 91 Jahre alt.

Hieran zeigt sich, dass Genderwissen kein vernachlässigbares Wissen in der Sozialen Arbeit ist, sondern vielmehr dazu beiträgt, die richtigen Analysen vorzunehmen und daraus folgend passende Maßnahmen, Interventionen und Kooperationen einzuleiten. Denn jeder Mensch – unabhängig von Alter und Geschlecht - hat das Recht auf ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit und auf körperliche wie seelische Unversehrtheit.


Angela Merkle und Franziska Peters von der Hochschule RheinMain


Dieser Beitrag wurde anlässlich der Wissenschaftstages Gender Studies und mit Bezug auf #4genderstudies verfasst.