Überlegungen zum Aktionstag #4genderstudies am 18.12.2020: Geschlechtertheoretische Perspektiven auf die Corona-Pandemie

Gender Studies stehen scheinbar zur Disposition: Mit Begriffen wie „Gender-Gaga“ oder „Gender-Wahn“ tituliert, werden Ansätze der Geschlechterforschung diffamiert, neben der AfD will auch die CSU den Studien öffentliche Mittel streichen. In Ungarn wurde das Studienfach Gender Studies abgeschafft.

Solche Forderungen bzw. Diffamierungen lassen unberücksichtigt, dass Theorien der Geschlechterforschung nicht nur einen zentralen Beitrag zu Gesellschaftsanalysen leisten, sondern dass deren Fehlen in gesellschaftlichen Analysen zu umfangreichen Blindstellen und Auslassungen führt. Die Entwicklung und Festsetzung der sogenannten Coronaschutzmaßnahmen erfolgte ohne Bezugnahme auf Geschlechtertheorien und ohne Bezugnahme auf die Expertise Sozialer Arbeit, die sich auf Geschlechtertheorien hätte berufen können. Das scheint überraschend, insbesondere da die Adressat:innen Sozialer Arbeit besonders von den sogenannten Coronaschutzmaßnahmen betroffen sind. Ein Grund für die Abwesenheit Sozialer Arbeit könnte darin zu sehen sein, dass zu Beginn der Corona-Pandemie die zu treffenden Maßnahmen nahezu ausschließlich aus medizinischer Perspektive diskutiert wurden. Aus dieser Perspektive erschien nachvollziehbar – gar alternativlos – Einrichtungen Sozialer Arbeit zu schließen, galt es doch, die Mitarbeitenden und die Adressat:innen durch eine Reduzierung sozialer Kontakte zu schützen.

Heute soll der Aktionstag #4genderstudies zum Anlass genommen werden, um die Phänomene der Corona-Pandemie aus einer geschlechtertheoretischen Perspektive zu betrachten:

„So ist mit der Corona-Krise die Natur zurückgekehrt“ postuliert Udo Thiedeke in seinem Artikel „Der stille Frühling der Soziologie“ und führt aus, dass wir mit „der Unhintergehbarkeit einer kollektiven Gefährdung unserer Physiologie […] drastisch mit der Tatsache konfrontiert [sind], […] dass wir bei aller geistigen Abstraktionsfähigkeit (auch der soziologischen) und trotz aller kultureller Konstruktionen und technischen Manipulationen, biologische Existenzen geblieben sind“ (Thiedeke 2020). Und als solche biologischen Existenzen sind „wir darauf verwiesen, dass es derzeit dem Subjekt wenig nutzt, auf sein Naturrecht zu pochen, weil die Natur ihr Recht einfordert“ (Thiedeke 2020). Thiedeke stellt eine naturalistische Perspektive in den Fokus, er hebt „das Virus auf die Stufe einer Naturgesetzlichkeit, eine Bedrohung, gegen die ‚wir‘ uns zusammenschließen müssen“ (Grüneklee/Heni/Nowak 2020, S. 52).

Eine andere Analysemöglichkeit bieten geschlechtertheoretische Perspektiven: Geschlechtertheoretische Zugänge sind für Soziale Arbeit zentral, ist diese doch seit ihrem Beginn mit geschlechtsbezogenen Dimensionen verwoben. Ende des 19. Jahrhunderts waren es vor allem Frauen, die „für eine sozialpolitisch und gesellschaftstheoretisch rückgebundene Soziale Arbeit stritten“ (Böhnisch 2015, S. 63). Und auch in der weiteren Etablierung der Sozialen Arbeit lassen sich die „Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit und die damit verbundenen ungleichen Zuschreibungen besonders gut betrachten. Liebe und Zuwendung, Sorge, Fürsorge […] werden auf Frauen projiziert“ (ebd., S. 69) und sind dadurch mit gesellschaftlichen Abwertungen konfrontiert (Rubin 2020, 228ff.). Geschlechtsbezogene Zugänge finden sich aber nicht nur im historischen Kontext und auf der strukturellen Ebene der Verhältnisse, geschlechtsbezogene Zugänge finden sich auch als Interaktions- und Herstellungsprozesse auf der Ebene des Doing Gender. Dieser analytische Zugang ist für die Einordnung der Maßnahmen während der Corona-Pandemie insofern relevant, als eine zentrale Aussage des Doing Genders ist, dass es „eine strikte Trennung zwischen Natur, Kultur und Gesellschaft nicht geben kann“ (Ehlert 2017, S. 25). Kurz skizziert sind die Annahmen des Doing Gender folgende: Die Geschlechtszugehörigkeit von Personen scheint zwar „zu den fraglosen und nicht weiter begründungsbedürftigen Selbstverständlichkeiten unseres Alltagswissens“ (Wetterer 2010, S. 126) zu gehören. Zieht man Konzepte zur sozialen Konstruktion von Geschlecht heran, dann wird allerdings deutlich, dass „Geschlechter in Gesellschaften […] als Ergebnis historischer Entwicklungsprozesse und einer fortlaufenden sozialen Praxis“ (ebd.) zu verstehen sind. Geschlecht stellt nicht die Basis sozialen Handelns dar, es ist der Effekt von Handlungen (Hirschauer 1989, S. 101). Wenn Geschlecht als Herstellungsprozess verstanden wird, dann gibt es „keine außerkulturelle Basis sozialen Handelns, keine vorsoziale Grundlage oder Anschlussstelle sozialer Differenzierungs- und Klassifizierungsprozesse, keine der Geschichte vorgelagerte ‚Natur des Menschen‘ (mehr)“ (Wetterer 2010, S. 126). Es ist nicht der Unterschied, der die Bedeutung konstituiert, es ist die Bedeutung, die die Differenz konstituiert.

Das außer Acht lassen dieser Perspektive führt dazu, dass durch die sogenannten Coronaschutzmaßnahmen bestehende geschlechtsbedingte Ungleichheiten verstärkt werden: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird – zumindest für die Angehörigen privilegierter Berufsgruppen, die ins Homeoffice ‚ziehen‘ können – ganz neu herausgefordert: Betreuung und Homeschooling von Kindern und Jugendlichen müssen zeitgleich mit der Erwerbstätigkeit stattfinden. Angehörige weniger privilegierter Berufsgruppen, z.B. Verkäufer:innen (zumeist Verkäuferinnen) müssen sich einer potenziellen Infektionsgefährdung durch den Kontakt mit anderen Menschen aussetzen. Zudem sind sie mit einer nahezu völlig unberechenbaren Betreuung ihrer Kinder konfrontiert, da die Betreuungseinrichtungen jeden Tag wieder schließen könnten, bzw. Kinder mit Erkältungssymptomen nahezu augenblicklich aus den Einrichtungen abgeholt werden müssen. Kinderbetreuung und Sorgearbeit – schon vor der Corona-Pandemie der hauptsächliche Zuständigkeitsbereich der Frauen – werden auch während der Corona-Pandemie weiterhin hauptsächlich von Frauen übernommen: Frauen sind während der Corona-Pandemie seltener im üblichen Stundenumfang erwerbstätig als Männer und sie haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, gar nicht erwerbstätig zu sein, ihre Erwerbstätigkeit also zu verlieren (Bünning/Hipp/Munnes 2020, S. 4).

Und auch an der Verteilung der zur Verfügung stehenden, bzw. neu geschaffenen Ressourcen, lassen sich geschlechtsbedingte Konnotationen ablesen: Während für die Pfleger:innen (zumeist Pflegerinnen) am Fenster geklatscht und gesungen wurde, wurde die Luftfahrt- und Autoindustrie mehrfach in nicht unerheblichem Umfang finanziell mit staatlichen Hilfen bedacht.

Wenn wir die Erkenntnisse der Geschlechterforschung im Rahmen der Umsetzung der sogenannten Coronaschutzmaßnahmen berücksichtigen, dann können sie entgegengesetzt zu den Annahmen von Thiedeke verstanden werden: ‚Die Natur‘ stellt in diesem Verständnis nichts Absolutes und damit auch nicht die außerkulturelle Basis des Handelns dar. Und diese Erkenntnisse lassen dann schlussfolgern, dass es nicht nur eine richtige Handlungsmöglichkeit gibt, sondern dann eröffnen sich Entscheidungsspielräume, die partizipativ und emanzipatorisch genutzt werden und geschlechtergerecht umgesetzt können.


Dr. Yvonne Rubin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin / M.A. Soziale Arbeit, Hochschule Fulda


Literaturverzeichnis

Böhnisch, Lothar (2015): Bleibende Entwürfe. Impulse aus der Geschichte des sozialpädagogischen Denkens. Weinheim: Beltz Juventa.

Bünning, Mareike/Hipp, Lena/Munnes, Stefan (2020): Erwerbsarbeit in Zeiten von Corona. Berlin.

Ehlert, Gudrun (2017): Gender in der Sozialen Arbeit. Konzepte, Perspektiven, Basiswissen. Berlin: Wochenschau Verlag.

Grüneklee, Gerald/Heni, Clemens/Nowak, Peter (2020): Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik. Berlin: Edition Critic.

Hirschauer, Stefan (1989): Die interaktive Konstruktion von Geschlechterzugehörigkeit. In: Zeitschrift für Soziologie 18, H. 2, S. 100–118.

Rubin, Yvonne (2020): „Lohnt sich das denn“? - Zur Vergesellschaftung sorgender Tätigkeiten für ältere Personen durch freiwillig Engagierte. In: Rose, Lotte/Schimpf, Elke (Hrsg.): Sozialarbeitswissenschaftliche Geschlechterforschung. Methodologische Fragen, Forschungsfelder und empirische Erträge. Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich. S. 219–232.

Thiedeke, Udo (2020): Der stille Frühling der Soziologie. Wie die Corona-Krise Gewissheiten der Soziologie herausfordert.

Wetterer, Angelika (2010): Konstruktion von Geschlecht: Reproduktionsweisen der Zweigeschlechtlichkeit. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 3., erw. und durchges. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/ GWV Fachverlage, Wiesbaden. S. 126–136.