Das aktuelle Weltgeschehen stimmt mich traurig
und missmutig. Wenn ich Radio höre oder die Tagesschau sehe, wahrnehme, wie
überall auf der Welt Menschenrechte missachtet werden, die Ungerechtigkeit
regiert, fühle ich mich aufgefordert und hilflos zugleich. Mir scheint es, als
stecke ich fest in einer Art Absurdität, wie sie Albert Camus in „Der Mythos des Sisyphos“ von 1942 beschreibt.
Ich erkenne ein Dilemma im Zusammenhang mit den Menschenrechten. Es ist hochgradig sinnwidrig, dass 193 Staaten dieser Welt die Menschenrechtscharta unterzeichneten, nun aber ein Land wie die USA mit dem angestrebten Einreisestopp für Muslime gegen den so wichtigen Artikel 2 zum Verbot der Diskriminierung verstößt – oder es zumindest beabsichtigt. Ebenso sinnwidrig erscheint vielerorts der Umgang mit Geflüchteten aus Krisen- und Kriegsgebieten, die sich beispielsweise in Budapest ein wenig Frieden erhofften. Sie verließen sich auf Artikel 14 der Menschenrechtscharta, der jedem das Recht zuspricht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. Und ist nicht auch die Türkei eigentlich ein vielfältiges Land mit ebenso vielfältigen Meinungen? Ohne die Achtung des Artikels 19, also ohne Meinungs- und Informationsfreiheit, ist doch nicht an Demokratie zu denken.
Ich bemühe mich (auch als angehende Sozialarbeiterin), für die Menschenrechte einzutreten. So schiebe ich meinen Klotz, ganz wie Sisyphos aus der griechischen Mythologie, behaftet mit Sorgen, Wut und Empörung über das Weltgeschehen einen Berg hinauf. Ich schimpfe bei Freunden und schimpfe auch online. Fürs Erste ganz gut, aber dann rollt der Stein wieder rückwärts hinunter. Irgendjemand irgendwo auf dieser Welt missachtet fortwährend die Menschenrechte – und ich fühle mich erneut aufgefordert und hilflos zugleich.
Der Vorstand der DGSA veröffentlicht im Vorfeld der Jahrestagung (28. und 29. April 2017 in Berlin) einen Artikel in der Zeitschrift „Alice“, zur Alice Salomon Hochschule gehörend. Ich las darin von der „Realisierung der Menschenrechte als Realutopie“ und bildete mir ein, ich wüsste, wovon hier die Rede ist. Offensichtlich ist es wünschenswert, sinnstiftend, um bei Camus zu bleiben, sich für die weltweite Beachtung und Einhaltung der Menschenrechte zu engagieren. Und dennoch bleibt es häufig eine Art Luftschloss, dessen Perfektion in der realen Welt unerreichbar scheint.
Wenn es also keinen Sinn macht, sich für Menschenrechte einzusetzen, da sie doch immer wieder missachtet werden, wozu gebe ich mir dann noch die Mühe? In Anlehnung an Camus gäbe es drei Möglichkeiten, das Dilemma zu lösen. Ich könnte meine Bemühungen sofort einstellen. Dies würde aber die Sinnlosigkeit der Menschenrechtscharta bestätigen. Und das entspräche nicht meiner Überzeugung. Ich könnte ebenso über die Menschenrechte denken, wie an eine Religion oder an etwas Übersinnliches, Spirituelles zu glauben. Das käme dem Luftschloss schon recht nahe und bedeutet für mich die Flucht vor der Realität. Die Vogel-Strauß-Technik war noch nie so mein Ding. Ich gebe Camus recht – diese zweite Option kommt ebenfalls nicht in Frage. Die dritte und nach Camus die letzte Option ist die Anerkennung des Absurden, des Dilemmas, dass trotz redlicher Bemühungen, sich für die Menschenrechte zu engagieren, es immer wieder vielerorts dazu kommen wird, dass einige sie missachten. Im schlimmsten Fall sind es sogar diejenigen, die ganze Länder regieren. Camus sagt, man solle weitermachen und nicht resignieren.
Nun frage ich mich, wie ich all die Energie, die mich umtriebig macht, die sich bisher meist im Freundeskreis, in sozialen Netzwerken entladen und gegen den Fernseher gerichtet hat, für etwas Sinnvolles nutzen kann. Wie gelange ich von einer Haltung, in der die Achtung der Menschenrechte zu meinem Selbstbild gehört, zum konkreten Handeln? Wie kann es gelingen, in der realen Welt gegen die Missachtung von Menschenrechten vorzugehen? Wie also kann ich weitermachen? Auf diese Fragen hoffe ich bei der Jahrestagung der DGSA Antworten zu erhalten. Denn, wie es im o.g. Artikel der Zeitschrift „Alice“ heißt: „Sie bietet ein Forum, in dem das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und den Menschenrechten in seinen unterschiedlichen Ebenen und Umsetzungsbereichen anhand empirischer, theoretischer und anwendungsorientierter Zugänge diskutiert werden soll. Dabei sollen auch fachliche Limitationen der Sozialen Arbeit kritisch hinterfragt werden.“
Michelle Mittmann
Studierende der Sozialen Arbeit und Social Media-Beauftragte der DGSA