Die beginnenden Reaktionen auf die Corona-Pandemie während des Studiums der Sozialen Arbeit begleitete auf der Orientierungsveranstaltung zum Master-Studiengang an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg noch Gekicher und ironische Süffisanz. So wurde jedenfalls in der zweiten Märzwoche das Anliegen über die Anfertigung einer Teilnehmer:innen-Liste mit Blick auf mögliche Ansteckungsketten kommentiert. Dass schon zwei Wochen später die Hochschule geschlossen wurde und alle analogen Formen der Zusammenkunft abrupt in den digitalen Raum wandern mussten, lag zu diesem Zeitpunkt zwar schon irgendwo in der Luft, konnte aber erst mit dem Hereinbrechen dieser Realität begriffen werden. Letzterer Prozess hält wohl immer noch an.
Die große Umstellung
Bevor ich meine Bedenken und Kritik zum Ausdruck bringe, ist es zuvörderst angebracht, Wertschätzung auszusprechen: Die Umstellung auf die digitale Lehre mit dem ersten Hochschulsemester unter „Corona-Bedingungen“ wurde trotz widriger Umstände bewältigt. Rückblickend ist es erstaunlich, wie schnell eine Institution mit ihren Akteur:innen handeln konnte – wohl, weil sie musste –, und dass ad hoc die digitalen Möglichkeiten in Form von Foren, digitalen Konferenzen via Zoom/Teams oder Chaträumen nun nicht nur begleitend, sondern hauptsächlich zur Lehre eingesetzt und genutzt wurden. Im Unterschied zur Lehre an Universitäten traf der Lockdown die Hamburger Hochschule genau zum Semesterstart – ohne jegliche Vorbereitungszeit. Hartmut Rosa hielt auf dem diesjährigen digitalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Folgendes pointiert fest: Für viele Menschen folgte auf die analoge Entschleunigung des Alltages die unmittelbar digitale Beschleunigung des Lebens (vgl. DGS 2020: 10:30). Von heute auf morgen mit Routinen zu brechen, sich didaktisch neu zu verorten, digitale Räume das erste Mal ‚so richtig‘ verantwortlich gestalten zu müssen, erforderte Kraft, Energie und Willen von beiden Seiten: von den Nutzer:innen und Betreiber:innen. Die Leistung der Verantwortlichen, einen Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten und Lehrräume für Studierende nach besten Möglichkeiten anzubieten – zuzüglich einem empathischen Interesse an der Lage der Studierenden und flexiblen Prüfungsregelungen – verdient Anerkennung.
Ein weiterer Begleitumstand dieser prompten Veränderungen allerdings: höhnisches Klatschen. Die Pandemie wurde teilweise als heilsbringender Digitalisierungsbeschleuniger für nicht vollends neoliberalisierte Orte und im Besonderen für vermeintlich ‚altbackene‘ Lehre und Lehrzugänge in den Geistes- und Sozialwissenschaften gefeiert. Dies führt bei mir zu der Sorge, dass es jene Klatschenden sein werden, die zukünftig vehementer dafür votieren, dass neben Bildungs- auch Beratungsprozesse hauptsächlich in digitaler Form angeboten werden sollen.
University is where your laptop is
Auf Dauer zu Hause im WG-Zimmer zu sitzen, das nun Home-Office, Home-Seminarraum, Home-Bibliothek und Home-Mensa zugleich sein durfte, erfüllt mich in Hinblick auf den Studienablauf nicht unbedingt mit Glück und Zufriedenheit. Was durch den Wegfall der analogen Orte fehlt, ist – freilich ein höchst exklusives und Exklusivität herstellendes Privileg (vgl. Stanescu 2020): Es besteht in dem Gefühl der Eingebundenheit in einen konkreten Denk- und Arbeitszusammenhang. Dieses Gefühl speist sich aus vielen Kleinigkeiten respektive deren Ausbleiben: dem Weg zur Hochschule mit Lektüre, den geplanten und zufälligen Begegnungen mit Studierenden vor und nach einem Seminar oder einer Vorlesung, gemeinsamen Mahlzeiten und Kaffee begleitet von kommunikativer Blödelei, Arbeiten und Recherchieren in der hauseigenen Bibliothek innerhalb vertrauter und von Häuslichkeit geschiedener Arbeitsatmosphäre, Kritik und Diskussionen in den Seminarpausen und besonders inhaltlicher Austausch face to face. In diesem Gefühl schwingt vielleicht der Beigeschmack einer Romantisierung oder einer gewissen Sehnsucht mit. Besonders als Arbeiter:innenkind mit Unizulassung auf dem zweiten Bildungsweg stellt die Hochschule als materiell-erfahrbarer Aufenthaltsort, so schrecklich architektonisch und im gleichen Maße segregierend er sein mag, eben auch einen sinnlich-sinnstiftenden Ort der Anregung zur reflexiven Problematisierung und vielfältig-kritischen Auseinandersetzung dar. Der Begriff des „Ortes“ ist hier nicht zufällig gewählt, sondern verweist auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Subjektivierungsprozessen und dementsprechend entfaltungsaffinen und territorialen Arrangements (Winkler 1988). Bei meinem häuslichen Studieren am Laptop, welchen ich jetzt tagsüber so häufig und intensiv nutze, dass ich ihn selbst als digital native mit fünfeckigen Augen in meiner Freizeit kaum mehr sehen mag, fühlte ich mich wie in einer Bildungsparabel, in der ich Gärtner und Blume zugleich sein durfte. Die emsige Bearbeitung von Texten und Aneignung von Inhalten an einem ausschließlich privaten Ort fühlte sich nach einem längeren Zeitraum, ebenfalls im Kontext des digitalen Raumes, wo Inputs von Dozierenden und Studierenden sowie Austausch gegeben waren, kontextlos an.
Das digitale Seminar
Dieses Wegbrechen von analogen Lehr-Lern-Routinen aufgrund der Corona-Pandemie evoziert Widerstand gegenüber diesbezüglichen Veränderungen und führt zu Verunsicherungen. Diese waren besonders in den digitalen Seminar- und Lehrräumen zu spüren. Wie gestalte(t) (s)ich mit meiner Anwesenheit solch ein(en) Raum? Wann spreche ich, wer spricht überhaupt, wie ‚melde‘ ich mich, wie viel sage ich, was machen die Mitstudierenden, warum haben einige die Kameras deaktiviert, habe ich mir gerade gedankenversunken und im fullscreen zu offensichtlich an der Nase herumgespielt? Fragen des Datenschutzes und der Privatsphäre trugen nicht gerade zu einer allgemeinen Offenheit und großen Beteiligung in den Seminaren bei. Vielleicht ist dieser Maßstab für Partizipation im Zuge einer Pandemie aber auch vermessen. Der unsichere Boden des digitalen Raumes im Rahmen eines Seminares zeigte sich besonders dann, wenn es um Kennenlernprozesse oder freien Austausch abseits der Seminarinhalte ging. Nur sehr zaghaft wurden lockere Gespräche aufgenommen oder off-topic fortgesetzt.
Durch die Ad-Hoc-Digitalisierung wurde auf spontane Gestaltungskräfte gesetzt und so getan, als ob der Ablauf eines solchen Seminares automatisch vonstattengehen könnte. Natürlich ging er das auch, aber sicherlich zum Vorteil der Vorlauten und Fixen und auf Kosten vieler anderer Personen, denen es schwer/er fiel, eine Umstellung plötzlich und zügig zu bewältigen. Es fehlten Räume, in denen der bisherige Ablauf und der weitere Fortgang diskutiert sowie offene Veränderungswünsche und Bedarfe kritisch artikuliert werden konnten. Wie wirken sich die digitalen Bedingungen auf das gemeinsame Lernen, Erfahren, Sprechen und den Austausch aus? Warum wurden bewusst für Flurfunk oder Kaffeepausen-Gespräche für Studierende zur Verfügung gestellte digitale Räume nicht bzw. nur sehr selten genutzt?
Was hier als zu wenig und ungerahmt eine erste Erfahrung darstellt, soll die digitalen Seminarräume nicht vorab desavouieren, sondern die beginnende Notwendigkeit einer transparenten und reflexiven Gestaltbarkeit markieren. Wie werden digitale Räume zu digitalen Orten? Wie kann den Ansprüchen des Lernens, Denkens, aber auch des Fühlens mit allen Sinnen ein wirklicher Erfahrungswert beigemessen werden?
(Un)Freiheiten?
Andere Erfahrungen hingegen haben einen gleichzeitigen Zugewinn an Freiheiten und Unfreiheiten aufgezeigt. Mit dem Laptop ein ganzes Seminar bzw. Studium „einpacken“ zu können, um ein anderes Territorium als den Studienort temporär aufzusuchen, birgt zum Beispiel viele Annehmlichkeiten. Welche Vorteile könnte ein digitaler Stream von Seminaren und Vorlesungen über die Pandemie hinaus bieten? Was passiert aber, wenn die digitalen Möglichkeiten zum digitalen Imperativ werden und die Debatte sowie freie Auswahl der Formate nicht mehr stattfindet? Ohne eine entsprechende Affinität, das technisches Know-how und zur Verfügung stehende Unterstützungsangebote bedeuteten nicht nur IT-Probleme während der Pandemie für einige Mitstudierende der Sozialen Arbeit das Studienaus: Lockdown = Knockout. Dies sollte bei zukünftigen Reflexionsprozessen mit Blick auf die Gestaltbarkeit von digitalen Orten berücksichtigt werden.
Ein Gastbeitrag von Ottje Bunjes, Master-Student der Sozialen Arbeit an der HAW Hamburg
Quellen:
Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS 2020). Kongress 2020 - Gesellschaft unter Spannung - 17. September 2020. Sonderveranstaltung zu soziologischen Diagnosen der gegenwärtigen Um_Ordnung mit oder nach Corona. Diskussionsimpulse: Hartmut Rosa, Andreas Reckwitz und Martina Löw. https://www.youtube.com/watch?v=Na9LIrXeSIU (Aufgerufen am 10.10.20).
Stanescu, Lea (2020). Struktureller Rassismus an der Universität Leipzig. In: Leipzigs unabhängige Hochschulzeitung (luhze). https://www.luhze.de/2020/08/14/struktureller-rassismus-an-der-universitaet-leipzig/ (Aufgerufen am 10.10.20).
Winkler,
Michael (1988). Eine
Theorie der Sozialpädagogik Stuttgart, Klett-Cotta, 1988.