Heute, am 18.12.2018, findet bundesweit der Wissenschaftstag Geschlechterforschung statt. Wissenschaftler_innen aller Disziplinen, die Gender Studies betreiben, beteiligen sich. Die Fachgruppe Gender der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) schließt sich dieser Aktion an.
Seit 2000 existiert unser bundesweiter Zusammenschluss von Genderforscher_innen in der Sozialen Arbeit. Wir verstehen uns als offenes Forum für Fachkolleg_innen aus Hochschulen sowie Fortbildungs- und Praxisinstitutionen der Sozialen Arbeit, die an der Weiterentwicklung von Genderfragen in Lehre, Praxis und Forschung der Sozialen Arbeit interessiert sind.
Seit mehreren Jahren häufen sich Diffamierungen, Unterstellungen und Falschinformationen zu den Gender Studies. Dabei werden Forschungsgegenstände der Gender Studies auf Themenfelder wie Sexualität oder Identität verkürzt und politische Gleichstellungsstrategien wie Gender Mainstreaming mit empirischen und theoretischen wissenschaftlichen Erschließungen der Geschlechterverhältnisse vermengt. Begannen diese Vorgänge in Kreisen der Neuen Rechten sind sie rasch auch in Feuilletons angesehener Tages- und Wochenzeitungen aufgegriffen worden. Darunter gibt es sehr differenzierte und aufklärende Berichterstattung. Allerdings gibt es auch anderes: Je kruder und provokanter, desto besser, so scheint es. Denn dies sichert mediale Aufmerksamkeit und zahlreiche Klicks Diese Entwicklungen hinterlassen ihre Wirkungen in den Praxisfeldern, aber auch in der Wissenschaftsdisziplin der Sozialen Arbeit. Bei Institutionen, Trägern und Verbänden und bei Drittmittelgebern, bei Studierenden und Fachkräften sind zunehmend Verunsicherung und Irritation zu Genderfragen zu registrieren. Erreichte Qualitätsstandards einer geschlechtsspezifischen Sozialen Arbeit werden neu in Frage gestellt.
Dies nehmen wir zum Anlass aufzuzeigen, welchen Beitrag Gender Studies im Feld der Wissenschaft Soziale Arbeit leisten, um zu einer Versachlichung der öffentlich-medialen Diskurse zu den Gender Studies beizutragen.
Soziale Arbeit basiert auf den allgemeinen Menschenrechten und den Grundrechten wie sie unser Grundgesetz festgeschrieben hat. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sie sich in ihrem Kern mit der Frage, wie soziale Probleme, die aus gesellschaftspolitisch ungleich verteilten Chancen zum ‚guten Leben‘ resultieren, zu lösen und Menschen bei der Bewältigung ihrer Benachteiligungen zu helfen. Solche Benachteiligungen umfassen den Mangel an Bildung, Beeinträchtigungen der Gesundheit, der beruflichen Erwerbsarbeit, des Einkommens, der sozialen Beziehungen und Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen. Mit der Unterstützung von Teilhabe, der Förderung von Bildung und Entwicklung und gesellschaftlicher Teilhabe ist Soziale Arbeit unverzichtbarer Teil wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge.
Geschlecht als Wissenskategorie begleiten Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit seit ihrem Entstehen. Schon die Gründerinnen der Sozialen Arbeit – Jane Addams in den USA, Alice Salomon in Deutschland, aber auch Marie Baum, Elisabeth Gnauck-Kühne, Lily Braun oder Henriette Fürth – beschäftigten sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts bspw. intensiv mit der prekären Situation von Frauen, um ihr Leben zu verbessern, z.B. der Alleinerziehenden, Arbeiterinnen, Kriegswitwen und Prostituierten.
Auch heute ist die Umsetzung die fachlichen Qualitätsstandards in den Einsatzfeldern Sozialer Arbeit – ob beim Kinderschutz, in der Kinderbetreuung und der Jugendarbeit, Gemeinwesenarbeit, Familienhilfe, Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Gesundheitshilfe, Flüchtlingshilfe, Altenhilfe, Gewaltschutz und Altenarbeit – ohne Genderkompetenzen nicht realisierbar. Denn schließlich gehören zu den Zielgruppen Sozialer Arbeit Menschen aller Geschlechtergruppen. Leistungen Sozialer Arbeit bedürfen von daher Wissen zu Geschlechterdimensionen in unserer Welt, wollen sie ‚passgenau‘ für die Zielgruppen sein.
Die Entwicklung von Genderkompetenz als Schlüsselqualifikation in der Sozialen Arbeit gehört von daher zu einer der notwendigen Standards beruflicher Qualifikation. Sie ist auf die Generierung der Wissensbestände der Gender Studies angewiesen – auf ihre Theoriebildung und ihre Empirie, ihre Erkenntnisse zur Entstehung von gesellschaftlicher Benachteiligung und der Entwicklung von Strategien zu deren Abbau. Konkrete Erträge der Gender Studies für Soziale Arbeit sind bspw.:
· Forschungen zu den Geschlechterarrangements in Einrichtungen der Erziehung, Bildung und Betreuung von Kindern haben nicht nur für alltägliche ‚Geschlechterinszenierungen‘ und geschlechtsbezogene Zuschreibungen, Kränkungen und Konflikte sensibilisiert, sondern auch ein umfangreiches methodisches Repertoire an geschlechterpädagogischer Praxis hervorgebracht.
· Die genderbezogene Care- und Familienforschung hat Wissen dazu geschaffen, wie die gesellschaftlich erforderlichen Reproduktionsarbeiten der Sorge, Pflege und Betreuung im Privaten organisiert werden, welche Arbeitsteilungen zwischen den Geschlechtern dabei bestehen und warum es insbesondere Frauen sind, die diese Arbeit leisten. Damit verbunden ist auch die Frage, wie Care-Aufgaben als Teil gesellschaftlicher Solidarität mehr Anerkennung erfahren können und Überlastungen und Benachteiligungen bei denen, die diese Aufgaben erfüllen, verhindert werden können.
· Ohne die Gender Studies hätten wir heute nicht das kritische Bewusstsein zur Alltäglichkeit von Gewalt im Leben von Frauen – aber auch von Kindern und mittlerweile auch ansatzweise im Leben von Männern. Und es gäbe auch nicht Infrastruktur von institutionellen Hilfen gegen häusliche Gewalt: Frauenhäuser, Beratungsstellen, staatliche Gewaltschutzprogramme.
· Die intensive Debatte zu den quantitativen Geschlechterungleichheiten in Studium und Beruf der Sozialen Arbeit hat ein Problembewusstsein dafür geschaffen, was es wohlfahrtsstaatlich und für die Zielgruppen bedeutet, wenn soziale Dienstleistungen überwiegend von Frauen geleistet werden. Sie hat aber auch die Frage danach aufgeworfen, was es für Männer bedeutet, in diesem Beruf in der Minderheit zu sein, und was es für Frauen und Männer bedeutet, wenn sie in diesen gesellschaftlich wenig anerkannten und gering honorierten Berufen tätig sind.
· Es waren schließlich auch die Gender Studies, die für versteckte geschlechtliche Aufladungen in den Ressentiments gegen geflüchtete Menschen sensibilisieren konnten und aufgezeigt haben, wie hier Männer mit dem Merkmal muslimischer Religionszugehörigkeit pauschal zu Repräsentanten unerwünschter Fremdheit gemacht werden. Umgekehrt machten sie deutlich, wie sehr Soziale Arbeit mit Geflüchteten forschungsbasierter gendersensibler Praxiskonzepte bedarf, um Männern, Frauen und Kindern gut helfen zu können.
Für eine emanzipatorische Soziale Arbeit sind Gender Studies unverzichtbar. Wir stehen gerne zur Verfügung, wenn es um kontrovers-produktive Auseinandersetzungen mit Genderfragen geht. Wir verwehren uns jedoch gegen diffamierende Vorwürfe eines neuen ‚Genderismus‘ wie sie heutzutage hoffähig geworden sind.
Die gesetzlich verankerten Prinzipien von Bildungsgerechtigkeit, Gleichstellung, Abbau von sozialer Ungleichheit und Antidiskriminierung sind nicht nur für Soziale Arbeit grundlegend, sondern gehen alle an. Sie tragen zu sozialem Ausgleich und einer lebendigen demokratischen Kultur bei. Deshalb brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Gender Studies und genderreflektierte Soziale Arbeit.
Für die Fachgruppe Gender der DGSA
Prof. Dr. Lotte Rose, University of Applied Sciences Frankfurt/ Prof. Dr. Gudrun Ehlert, Hochschule Mittweida
P.S.: Wer mehr zu den Gender
Studies in der Sozialen Arbeit erfahren möchte, ist herzlich eingeladen zur
Tagung „Gender_Wissen
in Forschungsfeldern der Sozialen Arbeit“ am 22.-23.02.2018, an der Alice
Salomon Hochschule Berlin, veranstaltet von der Sektion Forschung und der
Fachgruppe Gender der DGSA