Um was geht es?
China hat seit 2014 in zahlreichen Städten ein Sozialkreditsystem für alle Bürger_innen eingeführt. Ziel ist es, bis 2020 dies flächendeckend auf ganz China und damit die gesamte Bevölkerung ausgeweitet zu haben. Soziales Verhalten, das dem Gemeinwohl nutzt, wird belohnt. Sozial nicht-akzeptables Verhalten wird sanktioniert. So startet man mit einem Basiswert von 1000 Punkten und dann gibt es je nach Verhalten Bonus- oder Maluspunkte. Dies mündet in eine Kategorisierung analog unserer Einstufung des Energieverbrauchs von Haushaltsgeräten: A++ für die beste Einstufung, D für die schlechteste (weniger als 599 Punkte).
Positiv ist z.B.,
• wenn man mit dem Auto an einem Zebrastreifen anhält und einen Fußgänger passieren lässt,
• wenn man bei der Arbeit freundlich und produktiv ist,
• wenn man alle Kredite zurückzahlt,
• wenn man Verträge einhält,
• wenn man seine Eltern im Altenheim regelmäßig besucht,
• wenn man den Müll ordnungsgemäß entsorgt,
• wenn man nicht kriminell wird,
• wenn man seine Bücher in der Bibliothek fristgerecht zurückgibt,
• wenn man Kinder bekommt, ...
Negativ ist z.B.,
• wenn man Verträge nicht einhält,
• wenn man 10h pro Tag Computerspiele spielt und damit unproduktiv ist,
• wenn man bei Rot über die Ampel geht,
• wenn man unfreundlich ist,
• wenn man Blogbeiträge gegen das System schreibt,
• wenn man sein Essen nicht aufisst (Achtung: Ironie!).
Und Verstöße haben schon jetzt massive Auswirkungen. So waren im Jahr 2016 bis zu 6,7 Millionen Bürger_innen Chinas von „Reisebeschränkungen“ betroffen; sprich sie durften aufgrund ihres negativen Eintrags in der „local credit black list“ keine Tickets für Schnellzüge und Flugzeuge kaufen und damit nicht mit diesen Verkehrsmitteln reisen. Im Transrapid wird (auch auf Englisch) davor gewarnt, dass Schwarzfahren zu einem solchen negativen Eintrag in die „local credit black list“ führt.
Und woher weiß das Alles der Staat, bzw. besser das vom Staat beauftragte Softwareunternehmen, das ALLE verfügbaren Datenbanken (staatlich und privat) bis Anfang der 2020er Jahre in eine Datenbank zur Bewertung des Sozialkredits ALLER Bürger zusammenführen soll? Durch eine flächendeckende Sammlung nationaler Daten (big data) und einer Kategorisierung sozialen Verhaltens in Nachbarschaftskommitees (hello: friendly visiting).
Das Ganze war mir bis eben neu. Da habe ich auf NDR Info eine Reportage im Forum gehört (hier), die mich ehrlich gesagt geschockt hat. Nicht weil mir neu ist, dass China seine Bürger systematisch überwacht, nicht weil mir neu ist, dass autoritäre Regime eine spezifische Vorstellung von sozialer Kohäsion haben und nicht weil mir neu ist, dass Menschen oft auch freiwillig sich auf nur vermeintlich positive Dinge einlassen. Aber: Der Umfang der Vollerfassung der Bevölkerung im sozialen Verhalten (bei der Volkszählung in den 1980er Jahren in Deutschland ging es im Vergleich um Basisdaten und das hat massive Proteste ausgelöst), die Offenheit und „Transparenz“ in diesem Bestreben, die „Nachvollziehbarkeit“ der Argumentation (niemand kann doch was gegen Ehrlichkeit, Höflichkeit und Respekt haben) und die meines Erachtens massive Relevanz für die Soziale Arbeit, zum einen (a) als in China aufstrebende Profession und (b) weltweit, wenn man sich die Diskussionen um internationale Soziale Arbeit ansieht, hat mich geschockt.
Warum ist dies für Soziale Arbeit relevant?
Die „Global Definition of Social Work“ definiert: „Soziale Arbeit fördert als praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt, sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit.“ (hier)
Gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und insbesondere der soziale Zusammenhalt werden durch ein solches Sozialkreditsystem deutlich gefördert. Das kann man ja nun nicht bestreiten. Veränderungen sind ohnehin neutral und soziale Entwicklung und Zusammenhalt können ja nun durch Ehrlichkeit, Fleiß und Höflichkeit nicht wirklich in Frage gestellt werden, oder? Aber was ist mit Autonomie und Selbstbestimmung? Soziale Gerechtigkeit, gemeinsame Verantwortung und auch irgendwie noch Achtung von Vielfalt lassen sich als normative Prinzipien ebenfalls für die Begründung eines solchen Sozialkreditsystems heranziehen. Aber was ist mit den Menschenrechten?
Hier wird es interessant, wenn der führende Kopf der wissenschaftlichen Begleitung und der entsprechenden Forschungsstelle einer Shanghaier Universität in der Reportage davon spricht, dass das System natürlich offen ist, was die dem Kreditscore zu Grunde liegenden Kriterien angeht. „Es kommt auf die Bedürfnisse der Städte und Gemeinden an“, wird er in der verlinkten Radioreportage zitiert. Na, das ist interessant: Bedürfnisse sind in einer westlichen Sicht IMMER an Individuen gebunden. Wenn nun von Bedürfnissen der Städte und Gemeinden gesprochen wird, dann ist dies eine spezifische Sichtweise auf die „person-in-enviroment“. Das Individuum scheint nur ALS TEIL der Gemeinschaft zu zählen und nur als Teil dieser Selbstbestimmung und Autonomie zu besitzen. Damit ist genau das angesprochen, was schon bei der Diskussion der „Global Definition“ im Vorfeld der Verabschiedung angemerkt wurde. Eine bloße additive Aufzählung von System und Individuum ohne einen Bezug herzustellen, öffnet Tür und Tor für Relativierungen.
Absurde Idee? Ein Gedankenexperiment
Aber gibt es nicht auch in Deutschland genügend Systeme, wo eine soziale Kategorisierung vorgenommen wird und ein nicht befolgen, zu Sanktionen führt? Und muss man wirklich so weit weg gucken? Was ist mit der Schule als pädagogisches Setting? Was ist mit Jugendhilfeeinrichtungen? Gelten nicht auch hier Regeln, deren befolgen positiv sanktioniert wird und wo der Verstoß gegen diese zu negativen Sanktionen führt? Und sind diese Regeln des Zusammenlebens transparent?
An dieser Stelle ein kleiner Perspektivwechsel in diesem Blogbeitrag. Ich habe die Radioreportage mit einer Lehrerin zusammengehört und wir haben darüber diskutiert. In dem Gespräch haben wir festgestellt, dass in der Schulklasse / der Schule viele Regeln gelten, die das soziale Miteinander betreffen. Viele sind kommuniziert, aber nicht alle. Und natürlich sanktioniert „das System Schule“ entsprechendes Fehlverhalten. Zwar nicht in Kreditpunkten, aber in Verweisen und Strafarbeiten. Das kann jedeR nachvollziehen, der auch in der sozialen Gruppenarbeit in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit tätig ist. Was ist also der Unterschied zum chinesischen Sozialkreditsystem mit seinen Punktabzügen? Und hier kommt der entscheidende Satz aus dem Gespräch mit der Lehrerin. Sie sagte: „Also wenn die Schüler nicht von selbst merken, dass ihr Verhalten gegen eine Gruppenregel verstößt, dann muss ich es verbalisieren.“ Ja, genau. Man muss einen Diskursrahmen eröffnen, der über die Kriterien informiert, sie hinterfragbar macht und für Akzeptanz sorgt. Und wo ist dieser Diskursrahmen in einem autoritär-zentralistischen Land wie China?
Was fehlt, ist genau der Diskurs über diese Kriterien. Diese werden von der Regierung vorgegeben und der Wirtschaft diktiert. Hier sind kein Diskurs und keine Partizipation vorgesehen. Mehr noch: Das System ist softwaregestützt. Notwendigerweise basiert es also auf einem binären System, dass ein konkretes Verhalten kategorisiert und nur Eindeutigkeiten zulässt. Damit ist es nicht nur ein utilitaristisches System in absoluter Zuspitzung, sondern versucht sich zudem in einer absurden Weise in einer Technologisierung sozialen Verhaltens.
Was tun?
Ich weiß es nicht! Aber abschließend zwei simple Fragen: Wie positionieren sich eigentlich die Sozialarbeitsverbände in China und weltweit dazu? Und: Muss nicht vor dem Hintergrund solcher Überlegungen der Stellenwert des Individuums in zukünftigen internationalen Definitionen der Sozialen Arbeit viel stärker in den Mittelpunkt gerückt werden (bzw. in Beziehung zu sozialen Strukturen gesetzt werden) - strukturell UND normativ?
Prof. Dr. Stefan Borrmann