Die Praxis Sozialer Arbeit ist seit dem Beginn der Krise massiv betroffen, in unterschiedlichen und noch nicht klar zu benennenden Auswirkungen. Doch gerade jetzt ist ihr politischer Auftrag als Menschenrechtsprofession gefragt; insbesondere auch, da sie an den Adressat*innen / Nutzer*innen nahe dran ist und erfährt welche Probleme und Antworten sich stellen. Diese werden von der Politik oft nicht wahrgenommen oder in ihre Überlegungen eingebunden. Die Profession Soziale Arbeit hat eine klare Verantwortung für diese und muss sowohl theoretisch, praktisch als auch politisch aus dieser Pandemie ihre eigenen Lehren ziehen und sich öffentlich klar und laut positionieren.
Die Pandemie bietet hierzu den Anlass, alte Fragen neu zu stellen und zugleich weiter gehende Perspektiven, die vielfach bereits angedacht wurden, zu intensivieren. Dabei kann sie auf in der Pandemie gemachte Erfahrungen zurückblicken, da sie in vielfältiger Hinsicht in ihrer Praxis innovativ war und ist. Vieles von dem könnte oder sollte sogar verstetigt werden, doch auch das geht nur durch eine klare Darstellung des eigenen professionellen Engagements und eine laute und politische Einmischung.
Festzustellen ist, auch das wäre viel lauter und offensiver aufzuzeigen, dass Soziale Arbeit gerade nahezu unbeachtet und unter großen Mühen die Gesellschaft, so gut es geht, zusammenhält. Unter schwersten Bedingungen fördert sie notwendige Kohäsion und leistet eine unglaubliche große Fülle an Nothilfen.
Viele Schwachstellen der Gesellschaft werden wie in einem „Brennglas“ aufgedeckt und verstärkt [2]. Darunter sind auch Themen und Problemfelder, die im Zentrum der Sozialen Arbeit waren und sind. Zudem vergrößert und intensiviert dieses „Brennglas“ einige Problemstellungen, die sich der Sozialen Arbeit täglich stellen. Ohne dass bisher ausreichend Studien und Wissen vorliegen, muss schon jetzt u.a. auf die die Lage von seit Jahren strukturell benachteiligten Adressat*innengruppen der Sozialen Arbeit hingewiesen werden, die offenkundig durch viele Fördermaßnahmen fallen und in den Maßnahmen und den Überlegungen der Politik kaum eine Rolle spielen. Gleichzeitig entstehen neue Adressat*innengruppen, welche das sich weiter entwickelnde Ungleichheitsgefälle in Deutschland und global komplexer gestalten und neue soziale Maßnahmen sowie politische Programme erfordern.
Hierzu zählt auch, dass viele Projekte (GWA, Stadtteilzentren, Straßensozialarbeit, transnationale Migrationssozialarbeit …) und andere Hilfen ihre Adressat*innen / Nutzer*innen kaum noch oder nur unter schwersten Bedingungen erreichen.
Nicht zu übersehen ist zudem, dass es Überlegungen seitens der Politik gibt, Projekte und Stellen im Bereich der Sozialen Arbeit auszudünnen.
Demgegenüber muss sich die Soziale Arbeit in ihrem politischen Auftrag mit klaren Forderungen an die politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen wenden; das umfasst u.a. folgende Überlegungen:
- Die politischen Maßnahmen der Pandemie, welche sich aktuell im Spannungsfeld von Gesundheits- und Lebenserhaltung sowie der Unterstützung von Wirtschaft und Konsum befinden, haben kaum einen konkreten und fördernden Bezug auf die Lebenslagen besonders marginalisierter Gruppen, welche allzu oft in beengten Unterkünften leben, Distanzregeln kaum einhalten können und zudem oftmals von schlechterer Gesundheitsversorgung betroffen sind. Deren Lage in der Pandemie muss viel stärker öffentlich und laut thematisiert werden.
- Aus Sicht der Sozialen Arbeit sind die politisch Verantwortlichen auf den unterschiedlichen föderalen Ebenen dazu aufgefordert bzw. dafür verantwortlich, sich u.a. intensiver mit der Situation und den besonderen Problemstellungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Migrationssozialarbeit, der Zunahme an häuslicher Gewalt sowie den vielfältigen Probleme anderer Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit zu beschäftigen und erforderliche Maßnahmenpakete in Bezug auf angewandte Forschung und Praxis in Koordination mit den relevanten Sozialarbeitsverbänden und Netzwerken auf kommunaler-, Landes-, und Bundesebene vorzubereiten und umzusetzen. Wo dies bereits geschieht, ist es zu verstetigen und auszuweiten.
- Zudem müsste deutlich mehr in Soziale Arbeit investiert werden, da die erwartbaren Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie soziale Probleme intensivieren werden [3].
- Soziale Arbeit muss, wie Medizin und Pflege, von politisch Verantwortlichen auch als „systemrelevant“ [4] verstanden werden. Gerade sie hat als Profession Wissen und Instrumente zur Verfügung, um an den Schwachstellen und den erwartbaren sozialen Kosten der Pandemie zu arbeiten. Sie kann schon jetzt Konzepte für die Zeit mit Corona, die noch andauern wird, und darüber hinaus, vorlegen.
- Dazu gehört langfristig aber auch eine ethische Auseinandersetzung mit den aktuell erlebten Digitalisierungsschüben, der Problematisierung des sog. „digital divide“ und deren Auswirkungen.
Die Intention unserer Stellungnahme ist es Räume für weitere Diskurse zu öffnen, Fragen zu stellen, ohne sofort Antworten zu haben. Wir sollten und wollen keine vorschnellen Analysen anstellen, sondern diese einfordern. Dabei ist es wichtig gemeinsam nachzudenken, Synergien des Denkens zu suchen, sich den unterschiedlichen Auffassungen zu stellen und auch Widersprüche auszuhalten. Insofern ist dies eine „öffnende“ und aus dem Moment geborene Stellungnahme, die zu weiteren Diskussionen aber auch zur Formulierung von „Visionen“ über diese Zeit hinaus einlädt.
Wir sind davon überzeugt, dass sich Soziale Arbeit in der Auseinandersetzung mit den Folgen der Pandemie, die hierfür eine große Chance bieten, nicht nur stärker politisch positionieren kann, in dem sie Forderungen nach Analysen und Maßnahmen laut und öffentlich platziert; sie kann sich auch stärker als kritische, menschenrechtsorientierte und reflexive Profession weiterentwickeln. Auch und gerade die Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit trägt eine große Verantwortung, wie mit den Verwirrungen, Unsicherheiten und Bedrängnissen der aktuellen Situation „umgegangen“ werden sollte.
Über das Wie wollen wir mit allen Interessierten in einen fruchtbaren Austausch treten. Wir denken hier, in Abstimmung mit der DGSA (Fachgruppen, Sektionen) aber auch mit dem DBSH und den AKS zunächst an einen regelmäßigen „Stammtisch“ (online), um gemeinsame und politische Positionen zu diskutieren und zu finden. Gemeinsam können wir dann sehen, was daraus noch entstehen kann.
Wir laden alle Interessierten zu einem ersten Meinungsaustausch zur angesprochenen Thematik ein: Dienstag, 15. Juni, 18 Uhr. Link zum Raum
https://fhws.zoom.us/j/84728457474?pwd=ZjJ1S010djdkeFhVRUg2M0RMN0p2Zz09
Meeting-ID: 847 2845 7474 / Kenncode: 900824
Prof. Dr. Tanja Kleibl – Studiengangsleitung Master's Programme „International Social Work with Refugees and Migrants“ an der HAW Würzburg-Schweinfurt, Research Associate, University of Johannesburg (South Africa), Sprecherin der Fachgruppe „Internationale Sozialarbeit“ der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA)
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz – Soziologe und Anthropologe, University of Applied Sciences Erfurt, Lehrbeauftragter an der FH Erfurt und der HAW Würzburg-Schweinfurt sowie Research Associate, University of Johannesburg (South Africa)
[1] Siehe: Butterwegge, Christoph (2021): Wachsende Ungleichheit im Corona-Zeitalter. Die sozioökonomischen Konsequenzen der Pandemie, in: Lutz, R/Steinhaußen, R/Kniffki, J. (Hrsg): Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit, Weinheim 2021, S. 78-88
[2] Siehe die Aufsätze in:
· Volkmer, Michael/Werner, Katrin (Hg.) (2020): Die Coronagesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, transcript: Bielefeld.
· Kortmann, Bernd / Schulze, Günther G. (Hg.) 2020; Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft, transcript: Bielefeld.
[3] Siehe die Beiträge in: Lutz, R/Steinhaußen, R/Kniffki, J. (Hrsg): Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit, Weinheim 2021.
[4] Der Begriff Systemrelevanz bleibt unscharf, da er keine Aussage darüber trifft, ob es darum geht das „ökonomische System“ zu stabilisieren oder darum, Menschen in ihrem Alltag zu unterstützen. Auch ist es fraglich, ob er die Situation der ökonomischen Betonung mancher Bereiche tatsächlich abbildet. Somit stellt sich die Frage: welches System gemeint ist und was dabei Relevanz bedeutet. Dennoch soll er benutzt werden, da er in öffentlichen Debatten stark konnotiert wird.