Rezo-ziale Arbeit?!

Kurz vor der Europawahl 2019 landete der Youtuber „Rezo“ mit dem Video „Die Zerstörung der CDU“ einen viralen Hit. Das Video wurde mittlerweile fast 15 mio. mal angeklickt – eine fraglos enorme Reichweite. Es erfuhr sowohl öffentlichen Zu- als auch Widerspruch. Letzterer konzentrierte sich insbesondere auch darauf, die im Video kommunizierten Aspekte und Quellen seien zu einseitig und würden komplexen gesellschaftspolitischen Sachverhalten somit nicht gerecht werden. Dies mag zutreffen, inwieweit eine tiefergehende Betrachtung von Für und Wider bezüglich gesellschaftspolitischer Sachverhalte allerdings Aufgabe von Influencer*innen ist, sei an dieser Stelle dahingestellt. Auffällig ist die Art und Weise, wie mit der gewählten Präsentationsform Video Sachverhalte diskutiert werden. Theoretische Annahmen (die CDU betreibe Klientelpolitik, Klimawandel habe natürliche Ursachen, etc.) werden anhand empirischer Evidenz geprüft. Hierzu werden im Verlauf des 55-minütigen Videos 252 Quellen angegeben. Darunter finden sich neben Wikipediaeinträgen und Youtube-Videos etwa auch zahlreiche Artikel aus peer-reviewed top-tier Journals. Der Physiker Christian Thomsen, Präsident der TU Berlin, attestiert Rezo im Tagesspiegel dabei vornehmlich sauberes Zitieren. Ein solch starker Bezug auf (teils) wissenschaftliches Wissen ist im Kontext deutscher Influencer auf Youtube mutmaßlich ein neues Phänomen, welches einem aus der Popkultur entspringenden Youtube-Video einen durchaus wissenschaftlichen „touch“ verleiht. Ergeben sich daraus Implikationen für die disziplinäre Soziale Arbeit (in diesem Beitrag ist damit generell die deutschsprachige gemeint)? Ja, meine ich, und zwar in Bezug auf Potentiale, ihre Anliegen, Erkenntnisse, Empfehlungen, etc. mit Praxis und Gesellschaft (also insbesondere im sozialpolitischen Diskurs) zu kommunizieren (Wissenschaftskommunikation). Diskutieren wir im Folgenden Aspekte, die sich aus besagtem Phänomen ableiten lassen und die für die zukünftige Entwicklung der Wissenschaftskommunikation der disziplinären Sozialen Arbeit relevant sein könnten.

Interessant sind in diesem Kontext meiner Ansicht nach vier Aspekte: 
(1) das Rezo-Video im Vergleich zu ähnlichen Formaten, die zur Wissenschaftskommunikation bereits genutzt werden, 
(2) der Status quo der Wissenschaftskommunikation generell und in der Sozialen Arbeit im Besonderen 
(3) Besonderheiten der Sozialen Arbeit hinsichtlich Wissenschaftskommunikation und 
(4) mögliche Implikationen für die zukünftige Entwicklung der Wissenschaftskommunikation in der Sozialen Arbeit. Sehen wir uns diese vier Aspekte genauer an. 

Das Rezo-Video im Vergleich zu ähnlichen Formaten, die in der Wissenschaft bereits genutzt werden

Rezo bezieht sich also auf (vornehmlich empirisches) wissenschaftliches Wissen. Und das in einem der Popkultur zuzuschreibenden Youtube-Video. Was ist das Interessante daran? Ich meine, die Haltung und Kommunikationsweise des Protagonisten. Man spürt sein Interesse am wissenschaftlichen Wissen, er hat richtig Lust drauf, es in seine Argumente einzuweben. Dabei ist jedoch keine auf das System „Wissenschaft“ zurückzuführende Exklusionsindividualität (Luhmann, 1989) zu spüren, nope, der ganze Typ ist von oben bis unten authentisch. Nun ist es keine Rezo-Erfindung, wissenschaftliches Wissen über Videos im Internet zu kommunizieren, im Wissenschaftsbereich gibt es seit geraumer Zeit „scientific video abstracts“, kurze Zusammenfassungen von wissenschaftlichen Studien. Etwa 70% dieser Videos funktionieren so: Die/der leitende Wissenschaftler*in steht oder sitzt vor einem Bücherregal und erzählt ein paar Minuten was über eine Studie. Mhm. In einem Workshop zur Erstellung von wissenschaftlichen video abstracts lernte ich, dass Zuschauer*innen nach kurzem anfangen, die Titel der Bücherrücken zu lesen und nicht mehr wirklich zuhören. Daher sei der Hintergrund in diesen Videos nun meist nur noch verschwommen zu sehen. Ob das der Weisheit letzter Schluss ist oder aber doch authentisches Auftreten mit spürbarer Lust an der Sache, sei dahingestellt. Vermerkt sei an dieser Stelle, dass natürlich der Inhalt einer Studie eine Rolle spielt. Eine Studie über den Einfluss von Erdnussbutter auf die Erdrotation (ja, die gibt´s wirklich!) lässt sich wahrscheinlich besser verkaufen, als Mutmaßungen über die Reflektion von Ambivalenzen in der Sozialen Arbeit. Ein kürzlich von mir veröffentlichtes Video soll zeigen, dass es dennoch geht, auch sperrigere Themen (in diesem Fall über die Lehre von Evidence-based Practice in der Sozialen Arbeit) entsprechend lustvoll zu verpacken. Wie ist es nun derzeit um die Wissenschaftskommunikation bestellt?

Status quo der Wissenschaftskommunikation generell und in der Sozialen Arbeit im Besonderen

Die Diskussion zu diesem Thema ist keine neue, Anstrengungen wie PUSH (Public Understanding of Science and Humanities) des Stifterverbands oder die Leitlinien zur guten Wissenschafts-PR gibt es schon seit längerem – wenn vielleicht auch mit zweifelhaftem Erfolg. Dennoch findet sich Wissenschaft – sicherlich je nach Disziplin mehr oder weniger – sehr wohl in vielen öffentlichen Diskursen wieder, insbesondere im Zuge der Klimadiskussion, aber auch bezüglich der Wirtschaftspolitik oder in Diskussionen zur sozialen Frage. Gleichzeitig macht sich gefühlt mehr und mehr eine gewisse Elitenskepsis breit, worunter auch die Wissenschaft in ihrer öffentlichen Wahrnehmung leiden mag. Laut dem Wissenschaftsbarometer 2018 glauben beispielsweise nur 40% der Bürger*innen, dass Wissenschaft zum Wohle der Gesellschaft arbeitet. Generell ist für die Wissenschaft in Bezug auf die Kommunikation ihres generierten Wissens also wohl etwas Luft nach oben.  

Wie sieht es nun speziell bei der Sozialen Arbeit aus? Ohne die Inhalte der folgenden Beispiele werten zu wollen, gibt es lobenswerte Anstrengungen, beispielsweise wäre die Video-Reihe „30 Jahre – 30 Köpfe“ zu nennen, auch wenn hier keine wissenschaftliche Evidenz kommuniziert wird (zu einer ganzheitlichen Wissenschaftskommunikation gehört sicherlich mehr als die bloße Präsentation von Ergebnissen). Oder auch Youtube-Videos, die Bücher „in a nutshell“ vorstellen, gibt es bereits. Über diese ersten Versuche der disziplinären Sozialen Arbeit, Wissenschaft über neue Medien zu kommunizieren, hinaus ist zumindest mir wenig in dieser Richtung bekannt. Scientific video abstracts, die sich auf wissenschaftliches Wissen aus der deutschsprachigen Sozialen Arbeit beziehen, sind mir auch noch nicht untergekommen. Auch die disziplinäre Soziale Arbeit könnte also hinsichtlich der Kommunikation des von ihr produzierten Wissens noch zulegen. Warum tut sich die disziplinäre Soziale Arbeit da offenbar etwas schwer?

Besonderheiten der Sozialen Arbeit hinsichtlich Wissenschaftskommunikation

Meines Erachtens gibt es für die disziplinäre Soziale Arbeit hinsichtlich effektiver Wissenschaftskommunikation zwei erschwerende Aspekte. 1. Ihre Affinität zur Theorie. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Kommunikation von wissenschaftlichem Wissen mit Praktiker*innen. Theorien sind Mutmaßungen darüber, was wahr sein könnte. Diese intersubjektiv zu kommunizieren, ist mutmaßlich schwieriger als empirisch erforschte Daten. Zudem sind Theorien der Sozialen Arbeit weder falsifizierbar, noch werden sie generell empirischer Testung unterzogen. Sie verbleiben damit Mutmaßungen darüber, was wahr sein könnte. Wäre das Rezo-Video ohne Rückgriffe auf empirisch erforschtes Wissen, aber dafür mit Bezügen auf Mutmaßungen darüber, was wahr sein könnte, ähnlich rezipiert worden? Ich bezweifle es. 2. Der geisteswissenschaftlich geprägte Duktus in ihrer Theoriebildung und Forschung. Dies gilt sowohl für die Kommunikation mit der Praxis als auch hinsichtlich des sozialpolitischen Diskurses. Dieser geisteswissenschaftliche Fokus bedient sich – nehmen wir an, um analytische Tiefe zu erreichen – oft einer Sprache, die mitunter bereits innerhalb der entsprechenden scientific community für Verwirrung sorgt und in der bisweilen vorhandene Subtanzlosigkeit mit teils ausladender, teils geschickter Eloquenz kaschiert wird. Die dadurch entstehenden sprachlich komplexen Konstrukte sind halt schwer an die Frau/ den Mann zu bringen. So weit, so gut, aber welche Implikationen ergeben sich nun daraus?

Mögliche Implikationen für die zukünftige Entwicklung der Wissenschaftskommunikation in der Sozialen Arbeit

Nun, was wir von Rezo hinsichtlich zukünftiger Wissenschaftskommunikation lernen können, habe ich bereits erwähnt: Haltung. Mit Lust und Überzeugung, insbesondere natürlich auch durch Nutzung neuer Medien, wissenschaftliches Wissen kommunizieren. Das, was Rezo selbst im Gespräch mit Jan Böhmermann „den Unterschied zwischen institutionellem und menschlichem Reden“ nannte. Klingt trivial, aber allzu viel sehe ich davon von der disziplinären Sozialen Arbeit im öffentlichen Raum bisher nicht. 

Hierbei stellt sich aber auch die Frage: Produziert disziplinäre Soziale Arbeit Wissen, dass bei entsprechender Kommunikation von Praktiker*innen bzw. im (sozial-) politischen Diskurs mit hoher Wahrscheinlichkeit rezipiert werden würde? Falls ja, warum wird es offenbar nicht entsprechend kommuniziert? Im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Relevanz müsste die disziplinäre Soziale Arbeit doch in der Lage sein, ständig solche Videos wie das von Rezo raus zu hauen! Und falls nein, wie können diesbezüglich mögliche Barrieren in der Weiterentwicklung ihres Wissenskorpus überwunden werden?

Klar ist dabei aber auch: Nur weil manche Inhalte vielleicht schwieriger in einer Art und Weise zu kommunizieren sind, die catchy ist, heißt das natürlich nicht, dass Wissen, für das dies nicht gilt, nicht relevant wäre. Aber wie angesprochen ginge es ja vielleicht dennoch, eine entsprechend erfolgsversprechende Kommunikation solcher Inhalte zu gestalten. Vielleicht wird es also einfach noch nicht genügend versucht? Oder das nötige Wissen dazu wird nicht vermittelt? Könnte man ja ändern. Möglicherweise findet sich zukünftig ja beispielsweise in Doktorand*innenkollegs neben dem fünften Zeitmanagement-Seminar gegen Ende der Promotion Platz für einen science communication workshop, idealerweise mit entsprechendem Output!

Fazit

Damit Wissen genutzt wird, muss es erfolgreich kommuniziert werden. Die disziplinäre Soziale Arbeit kann dahingehend sicherlich noch zulegen und verdient eine selbstbewusste und lustvolle Wissenskommunikation. Dazu gehört unter anderem auch die Bereitstellung von Ressourcen (wissenschaftliches Wissen; Wissen darüber, wie dieses effektiv kommuniziert werden kann; Investitionen wie Geld und/oder Zeit zur Erstellung entsprechender Medien) sowie die Akzeptanz alternativer Kommunikationsformen in der scientific community. All dies gibt’s nicht einfach so, die entscheidende Frage ist also, ob die disziplinäre Soziale Arbeit einen Diskurs über Verbesserungspotentiale ihrer Wissenskommunikation braucht und eingehen sollte. Ich meine ja. 

Florian Spensberger, Mitglied der netzwerkAGsozialearbeit


Literatur:

Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989