Am 3.1.2021 strahlte RTL eine Pilot-Sendung des Genres des ‚Reality TV‘ aus, die schon im Vorfeld ein Aufreger war: Eine Hundetrainerin unterstützt vor laufender Kamera zwei Familien bei der Bewältigung der Erziehungsprobleme mit ihren Kindern. Das Filmkonzept erinnert an die „Supernanny“, ein Coaching-Fernsehformat, das 2004 bis 2011 in RTL lief und das damals auch schon stark in der Kritik war. Während aber die „Supernanny“ Katharina Saalfrank vom Sender als Diplompädagogin vermarktet wurde, also als einschlägig, formal und akademisch qualifiziert zur Kindererziehung, ist dies nun anders. Zu der aktuellen Erziehungsexpertin Aurea Verebes heißt es, dass sie eine Ausbildung als Hundetrainerin hat und bei der Erziehung der eigenen Kinder mit Techniken des Hunde-Trainings erfolgreich war.
Zu sehen ist, wie die hilfesuchenden Mütter in einfache Konditionierungsverfahren eingewiesen werden, mit denen es möglich ist, ihre Kinder dazu zu bringen, das zu tun, was das Leben mit ihnen leichter macht: Schlafen im eigenen Bett, Zähneputzen, kooperationsbereit sein, der Mutter zuhören und ihren Ansagen folgen. Zentral ist hierbei das Clicker-Training. In der Hundeerziehung wird damit klassisch konditioniert, indem auf erwünschte Handlungen des Hundes ein Click-Geräusch folgt, das mit einem Leckerli verbunden wird. In einem weiteren Schritt geht es dann darum, dass der Hund lernt, das Geräusch – die sekundäre Verstärkung – auch ohne die primäre Verstärkung des Leckerlis als Belohnung zu begreifen. Der schlichte Click soll dem Hund mitteilen: „Gut gemacht, weiter so!“ Auf diese Weise kann der Hund dazu gebracht werden, sich so zu verhalten, wie Herrchen oder Frauchen sich dies wünschen, bis hin zum Erlernen von raffinierten Kunststücken, so heißt es jedenfalls durchgängig auf den Homepages zur Hundeerziehung.
Diese Methode wendet Aurea Verebes nun auch bei den ‚Problem-Kindern‘ an. Mit der Kombination von ‚Leckerlis‘ in Obstform und Clicker werden ‚Umorientierungen‘ eingeübt. Das eine Mädchen soll immer, wenn die Mutter ein gemeinsam vereinbartes Wort sagt, sich ihr aufmerksam zuwenden, um aggressive Eskalationsspiralen zu beenden. Bei dem anderen Mädchen mit Schlafproblemen wird ein „Deckentraining“ durchgeführt. Zunächst wird eine Decke positiv assoziiert, indem auf ihr schöne Tätigkeiten durchgeführt werden, geclickert und Obst vergeben wird, um die Decke anschließend in das verweigerte Kinderbett zu legen und so den Weg dafür zu bereiten, das eigene Bett zu einem annehmbaren Ort zu machen. Auch zum Zähneputzen, gegen das sich das Mädchen mit aller Kraft gewehrt hat, wird so ein Weg gefunden. Zwangloses Spiel mit einer neuen Zahnbürste in Verbindung mit Belohnungen und Clickern lassen das Kind schließlich selbst nach der Zahnbürste greifen.
Es ist ein leichtes, sich mit Verve den öffentlichen Empörungen über dieses Format eines privaten Senders anzuschließen. Da werden Kinder und ihre Eltern ungeschützt zur Schau gestellt, der Lächerlichkeit preisgegeben und damit Geld gemacht. Da wird eine ‚Schein-Realität‘ erfolgreicher Erziehung inszeniert, bei der all die Verwerfungen pädagogischer Prozesse verschleiert werden. Und da wird schließlich Reiz-Reaktionslernen als Wundermittel der Erziehung propagiert, bei dem sämtliche erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse zur Co-Produktion von Erziehung und moderne Paradigmen vom Kind als Subjekt seines Lebens über Bord geworfen sind. Das alles verschafft das gute Gefühl, dass man es selbst natürlich besser weiß als die Filmmachenden und Aurea Verebes. Kinder sind keine Tiere. Ihre Psyche ist komplizierter als eine Hundeseele. Auch sollen sie nicht gehorsam und gefügig sein, sondern zu emanzipierten Erwachsenen heranwachsen, die ihr Leben zu ihrem eigenen und zum gesellschaftlichen Wohlergehen autonom gestalten können. Von daher verbieten sich bei ihnen Dressurtechniken aus der Tiererziehung. Sie brauchen eine menschenspezifische Erziehung! So oder so ähnlich klingt es bei allen Kommentaren, die im Netz zu der Sendung kursieren. Aber ist damit eigentlich alles schon klar? Die Frage ist doch, warum diese Gleichheit von Hund und Kind einerseits überhaupt pädagogisch erzählbar (und filmisch vermarktbar) ist und warum sie andererseits gleichzeitig die Öffentlichkeit so triggert.
Die kurze Antwort darauf ist: Die soziale Demarkationslinie zwischen Tier und Mensch ist schwebend, unsicher und umkämpft zwischen den Polen binärer Differenz und Similarität. Die lange Antwort sieht so aus: Menschliche Gesellschaften haben immer das Verhältnis zwischen Tier und Mensch und die Frage bearbeitet, ob Tiere wie menschliche Lebewesen sind und zur menschlichen Gemeinschaft gehören oder doch ganz anders sind und außerhalb der menschlichen Gesellschaft stehen – mit unterschiedlichen Ergebnissen.
Für die modernen Gesellschaften des globalen Nordens lässt sich ein eigentümliches Nebeneinander von massiven Vermenschlichungen der Tiere und gleichzeitigen scharfen Grenzziehungen ausmachen. Auf der einen Seite haben wir jene Tiere, die wir als Nutztiere vor allem für Nahrungszwecke funktionalisieren. Sie leben und sterben in Sonderzonen, gut abgeschirmt von den menschlichen Lebenswelten unter desaströsen Bedingungen und weit ab von der Wertewelt der menschlichen Gesellschaft. Für sie gilt all das nicht, was für Menschen gilt. Sie gelten als nicht-menschliche Lebewesen, und dies ermöglicht und legitimiert die speziesistischen Herrschaftsverhältnisse. Doch auch dies ist nicht fix, sondern gesellschaftlich durchaus umkämpft. Soziale Bewegungen prangern bekanntlich diese Situation an und klagen für Tiere jene Lebensrechte ein, die für menschliche Lebewesen selbstverständlich sind.
Auf der anderen Seite haben wir das Phänomen der Verflüssigung der Mensch-Tier-Grenze. Weit verbreitet sind ‚Animalisierungen‘ vor allem in der Kinderwelt: Kindergartengruppen haben vorzugsweise Namen von Tieren, tierliche Kosenamen – wie Maus, Hase, Spatz oder Schnecke – sind für Kinder gang und gäbe, und die Kinderbücherwelt ist gefüllt mit Tieren als Protagonisten. Haustiere rücken zu Gefährten auf, mit denen der private Lebensraum geteilt wird. Sie werden dabei quasi zu Menschen: sie bekommen vergeschlechtlichte Menschennamen, Bekleidungsutensilien, Spielzeug, Geschirr, eigene Pflegemittel und Speisen, sie werden in (Hunde-)Schulen geschickt, in ‚Hutas‘ betreut, sie gehen mit auf Reisen, sie erhalten Aufmerksamkeit und Fürsorge, im Krankheitsfall werden sie medizinisch versorgt bis dahin, dass sie nach ihrem Tod manches Mal auf einem Friedhof beerdigt werden. Ihre Besitzer_innen binden sich emotional an sie, investieren viel, dass es ihnen gut geht, und erleben das Leben mit ihren Haustieren als kostbare Bereicherung.
Dies schließt auch ein: diese Tiere werden erzogen. Damit das Zusammenleben mit ihnen sozialverträglich ist, müssen sie lernen, sich störungsfrei im komplizierten Gefüge der menschlichen Lebensräume zu verhalten. Dabei ist nun spannend, dass die Gestaltung der erforderlichen Lernprozesse letztlich denselben Prinzipien folgt wie bei Kindern. Jutta Buchner-Fuhs hat dies in einem aufschlussreichen Aufsatz herausgearbeitet (Tiererziehung als Menschenerziehung, in: Buchner-Fuhs/Rose: Tierische Sozialarbeit. VS 2012). So wie in der Menschenerziehung sich ein Wertewandel weg von repressiven Unterwerfungs- und Strafprozeduren, hin zu Gewaltfreiheit, Empathie und Kommunikation als Erziehungsmitteln vollzogen hat, hat sich auch die Tiererziehung – gut wahrnehmbar vor allem bei der Hundeerziehung – in gleicher Weise verändert. Auch hier sind gewalttätige Praktiken der Unterwerfung zunehmend verpönt. Stattdessen werden positive Verstärkung, Zuwendung und Bindung als Techniken der Regulierung des Tierverhaltens propagiert. Wir sehen: Tiere werden in einer Art und Weise erzogen, die der Kindererziehung ähnelt wie dies auch umgekehrt gilt. Die Autorin spricht hier von einer „Entgrenzung von Mensch und Hund“.
Vor diesem Hintergrund kann es also gar nicht weiter erstaunen, sondern ist völlig konsequent, dass in einer Sendung vorgeführt wird, wie Techniken der Hundeerziehung bei der Kindererziehung nutzbar sind. Sie liegen in der Praxis so nah beieinander, dass das, was wir sehen, quasi nur der finalisierende Schritt der Entgrenzung ist, von der Jutta Buchner-Fuhs spricht.
Wie viele Verfahren der Kindererziehung sind letztlich nur eine Variante des gescholtenen Verstärkertrainings, mit dem die Hundetrainerin in den Familien arbeitet? Wenn Eltern empfohlen wird, stabile Einschlafrituale für das Baby zu schaffen, um den Übergang in die Nacht zu erleichtern, wenn in Schulen Smileys unter gute Hausaufgaben gesetzt werden und unter fehlerhafte nicht, wenn der ‚Leisefuchs‘ eingesetzt wird, um Ruhe in der Klasse herzustellen, wenn Punktesysteme installiert werden, mit denen das Verhalten von Kindern erfasst, bewertet und gegebenenfalls belohnt wird, wenn der Nachtisch erst nach der Hauptspeise gegessen und Fernsehen erst geguckt werden darf, wenn das Zimmer aufgeräumt ist, dann ist das alles nah dran am Clickern und Leckerli-Verteilen. Statt sich zu echauffieren über das Sendeformat, wäre es also sinnvoller danach zu schauen, wieviel Konditionierung im pädagogischen Alltag längst (unerkannt) völlig selbstverständlich steckt und sich kritisch damit zu beschäftigen.
Zu guter Letzt: Dass die Empörung über einer Hundetrainerin als Helferin bei der Kindererziehung so überschießt, lässt sich lesen als Ausdruck des Unbehagens angesichts der so offensichtlich werdenden Permeabilität zwischen Mensch und Tier. Der Mensch als Krone der Schöpfung, der eben nicht wie das Tier ist, sondern sich über seine tierlichen Verwandten hinaus entwickelt und sich über sie erhoben hat (eine Idee, die der Kolonialismus variierte) – diese Idee scheint gefährdet angesichts einer Pädagogik, die für Tiere auch passt. Bezeichnenderweise formulieren beide Mütter ihre Bedenken, dass doch ihre Kinder nicht wie Hunde erzogen werden können – um diese Bedenken aber gleich wieder zu zerstreuen. Und ebenso ist bemerkenswert, dass der Hundetrainerin noch ein Kinder- und Jugendpsychotherapeut in der Sendung an die Seite gestellt wird, der ihr Tun öffentlich gutheißt. Offenbar reicht die hundeerzieherische Qualifikation nicht aus, um Aurea Verebes als Expertin für kindererzieherische Fragen zu legitimieren.
So besehen bietet „Train your baby like a dog“ viel Anlass, um über unser widersprüchliches und fragwürdiges Mensch-Tier-Verhältnis nachzudenken, statt sich im vermeintlich medienkritischen RTL-Bashing zu gefallen.
Prof. Dr. Lotte Rose, Frankfurt University of Applied Sciences, FB Soziale Arbeit und Gesundheit, Sprecherin der Fachgruppe Gender der DGSA