Forschung und Praxis – jeder für sich oder lieber zusammen?
Das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis ist im Fachdiskurs der Sozialen Arbeit bis heute ein viel diskutiertes Thema (zuletzt hierzu auch der DGSA Podcast: Promotionen und Promotionsförderung in der Sozialen Arbeit). Als Disziplin gewinnt Soziale Arbeit in dem Maße an Bedeutung, in dem Theoriebildung durch Forschung vorangebracht wird und gleichzeitig der gemeinsame Dialog von Wissenschaft und Praxis, also zwischen wissenschaftlicher Disziplin und praxisorientierter Profession, gefördert wird. Für die Forschung und Lehre in der Sozialen Arbeit sowie die Hervorbringung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse spielen Promotionen eine zentrale Rolle. (Der Einführungsvortrag und Nachlese der Tagung sind hier zu finden).
Die Qualifizierung in der eigenen Disziplin ist konstitutiv für Sozialarbeitswissenschaftler:innen, um neues Wissen über Gegenstandsbereiche Sozialer Arbeit zu generieren und wiederum in die Praxis zu übertragen. Die Gegenstandsbereiche Sozialer Arbeit beziehen sich in hohem Maße auf die Praxis und das generierte Wissen soll dazu dienen „[d]ie Praxis der Sozialen Arbeit zu hinterfragen, sie zu irritieren, (...) gängige Praxen zu bestätigen oder auch zu verwerfen“ (aus dem Positionspapier der Sektion Forschung, 2019). Praxis und Forschung folgen dem Anspruch, reflexive Praxis zu ermöglichen und zu fördern. Hier zeigt sich das enge Verhältnis zwischen den beiden unterschiedlichen, jedoch über den gemeinsamen Gegenstand verbundenen Bereichen.
Für die Entwicklung von Professionalität in der Sozialen Arbeit ist es dabei zudem hilfreich, wenn promovierte Angehörige der eigenen Profession an der Ausbildung von Studierenden der Sozialen Arbeit beteiligt werden. Die Förderung des eigenen wissenschaftlichen Nachwuchses wird damit auch zum Thema der Praxis (vgl. DBSH Promotionen in der Sozialen Arbeit), deren Rolle bei der Förderung von Promotionen bzw. der Forschung in der Sozialen Arbeit noch nicht ausreichend thematisiert und erst recht nicht diskutiert wurde. Promotionen in der Sozialen Arbeit, das ist hinreichend dargelegt, sichern die Innovations- und Zukunftsfähigkeit von Disziplin und Praxis.
Vor diesem Hintergrund und anknüpfend an die Tagung der Fachgruppe Promotionsförderung, der Sektion Forschung unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) und des Deutschen Bundesverbandes Soziale Arbeit (DBSH) mit dem Titel „Forschen und Promovieren in der Sozialen Arbeit“ 2016, in der insbesondere Doktorand:innen selbst zu Wort gekommen sind, zielte die Tagung „Forschung – Praxis – Promotion“ an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt im April 2023 auf das Potenzial der Zusammenarbeit von Forschung und Praxis für die Promotionsförderung. Die Tagung sollte Akteur:innen der Sozialen Arbeit in einen Austausch über die Möglichkeiten von Promotionen für die Disziplin- und Professionsentwicklung bringen, um die Förderung und die Erweiterung von Promotionsmöglichkeiten in der Sozialen Arbeit auszuloten. Dieses Thema treibt viele um, was sich schon im breit aufgestellten Organisationsteam der Tagung zeigte: Neben der Fachgruppe Promotionsförderung und der Sektion Forschung unter dem Dach der DGSA beteiligten sich die OGSA, die DVSG, der DBSH sowie das Promotionszentrum Hessen und das Promotionskolleg NRW an der Ausarbeitung der Tagungsfragestellung und der Entwicklung von interaktiven und diskursorientierten Programmformaten, um diesen Austausch voranzutreiben.
Diskutiert wurde vor allem zu Fragen zum Potenzial der Zusammenarbeit zwischen Forschung bzw. Wissenschaft und Praxis für die Promotionsförderung:
- Wie können Kooperationsprozesse zur Förderung von Promotionen gestaltet werden? (Umgang miteinander und Erwartungen aneinander; Forschung in der Praxis, mit der Praxis, von der Praxis)
- Welche Rolle kann Praxis im hochschulpolitischen Diskurs um die Erweiterung des Promotionsrechts einnehmen?
- Wie können Forschungskooperationen gestaltet werden? (Zugangswege)
- Welche Forschungstätigkeiten gibt es in der Praxis selbst?
Im Hinblick auf die Frage nach geeignetem Wissen und der Gestaltung von Forschungsprozessen stellten sich außerdem methodische und methodologische Fragen zur Gestaltung von Promotionen in der Sozialen Arbeit:
- Wie kann Promotionsforschung die Entwicklung von Methoden in der Praxis befördern?
- Wie kann die Methodologie der Sozialarbeitsforschung in Kooperation mit der Praxis weiterentwickelt werden?
- Wie können Themen/Fragen aus der Praxis systematischer in Promotionsforschungen münden?
Um Promotionen in den neuen thematisch herausfordernden Bereichen wie Klimaschutz, digitale Transformation, demografischer Wandel und vielen anderen komplexen Fragen aus sozialarbeiterischer Perspektive zu fördern, bedarf es eines inter- bzw. transdisziplinäres Settings in Reflexion, Betreuung und Ausarbeitung. „Transdisziplinarität“ zu ermöglichen (ohne fachliche Autonomie zu riskieren) bildete einen relevanten Gestaltungsraum in dieser Fachtagung, ging es doch um die für die Soziale Arbeit typische Fertigkeit, sich auch in andere kognitive „Orientierungsrahmen“ einzudenken, ohne den Blick auf den eigenen Gegenstand zu verlieren.
Die Förderung von Promotionen hat des Weiteren einen engen Zusammenhang zwischen den Programmatiken der Forschungsförderungen (z.B. BMBF; zuletzt Wissenschaftsrat 2023) zum jeweiligen Zeitpunkt und den programmatischen Ausrichtungen der fördernden Stiftungen. Das insbesondere vor dem Hintergrund begrenzter Zugänge Sozialer Arbeit zu Drittmitteln. Auch die Berücksichtigung von Fakultäten Sozialer Arbeit innerhalb von Hochschulinfrastrukturprogrammen des Bundes oder der Länder hängt stark von der Ausschreibungsprogrammatik, aber auch der strategischen Hochschulentwicklungsprofile ab. Eine Rolle spielen dabei sicherlich auch die Zugänge zu Optionen kooperativer Promotionen. (Kurz vor der Tagung hatte der Vorstand der DGSA einen Offenen Brief zu Forschungsförderung der Wissenschaft Soziale Arbeit an den HAW veröffentlicht.)
Die zweitägige Tagung versammelte Akteur:innen der Sozialen Arbeit, insbesondere Vertreter:innen der Forschung und der Praxisverbände und ermöglichte Promovierenden eigene Erfahrungen sowie Schlaglichter aus den Panels zu den Leitfragen der Tagung beizutragen. Deutlich wurde hierbei, dass der Austausch zu Erfahrungen, Erwartungen und Standpunkten aus dem (eigenen) Umfeld zum Thema Forschung – Praxis – Promotion einen dauerhaften Ort brauchen, wofür sich die DGSA mitunter sehr anbietet.
…und wie?
Soziale Arbeit versteht sich vom Verständnis her als forschende Profession bzw. Disziplin. Das bedeutet auch mithilfe der „Promotionsthemen“ Lösungen gesellschaftlicher Herausforderungen (im Sinne handlungswissenschaftlicher Ausrichtung) voranzutreiben. Prof. Dr. Silke Gahleitner formulierte in ihrer Keynote hierfür Thesen, die mitunter sehr geeignet scheinen, Forschung – Praxis – Promotion miteinander zu verzahnen und verbinden (Gahleitner 2023):
- Soziale Arbeit sollte sich souveräner forschungsmethodologisch aufstellen. Dazu gehört auch, das Forschungsspektrum umfassender auszuschöpfen.
- Soziale Arbeit braucht ein klares Selbstverständnis als (praxis-)forschungsintensive Disziplin und Profession und daher das Promotionsrecht.
- Es braucht Verbesserungen auf struktureller Ebene, das Strukturdefizit lässt sich nicht auf Dauer durch das Engagement Einzelner (oder einzelner Hochschulen) abfangen.
Die vortragenden „Impuls-Transformator:innen“ (Promovierende, die die einzelnen Workshops besuchten und ihre Erfahrungen im Anschluss mit dem Plenum teilten) unterstützen hierbei die Erkenntnis, die Praxis solle eine größere Rolle spielen. Anschlussfähig war dies insbesondere, da auch in der Podiumsdiskussion autonomiekritische Perspektiven und Praxisgebundenheit gefordert wurden. Die Podiumsdiskussion am ersten Tag machte zudem deutlich, dass eine stärkere Auseinandersetzung mit Transfer-Begriffen und anwendungsorientierter Forschung geführt werden muss! Ziel sollte - mehr - (soziale) Durchlässigkeit sein.
Die weitere Keynote von Prof. Dr. Sonja Kubisch und Prof. Dr. Julia Franz mit der Überschrift „Normativität in der rekonstruktiven Forschung zu Professionalität Sozialer Arbeit – Reflexionen aus der Perspektive der Wissenschaft Soziale Arbeit“ zeigte auf: Fachlichkeit resultiert aus Suchbewegungen und fachlichen Entwicklungen (vgl. Kubisch/Franz 2023). Die Frage: „Gibt es in Forschungspraxis eine Abwertung der Berufspraxis?“ ist hierbei nicht unwesentlich und gehört genauso reflektiert wie die Frage, ob und wenn ja, wie bzw. warum Soziale Arbeit Normativitätsansprüche übernimmt. Organisationale Normen können sich hierbei von fachlichen Normen unterscheiden und auch Wertorientierung bestehen, weshalb die eigene Perspektive zu analysieren ist. Somit kann die Arbeitstagung auch als Beitrag der Professionalisierungsforschung gesehen werden.
Promovierende betonten die Bedeutung von „Brückenpersonen“ bzw. „Brückenstellen“. Die Frage, wie Partner in der Praxis gewonnen werden können ist genauso relevant, wie der Aspekt, dass sich Bedingungen ändern, wenn Personen (Arbeits-)Stellen wechseln. Eine stärkere Wissenschaftskommunikation für anwendungsorientierte Forschung müsse als wissensorientierte Forschung mehr Raum bekommen.
Das gemeinsame Eintreten für eine stärkere Darstellung der Wissenschaftsförderung in Sozialer Arbeit ist laut Abschlussdiskussion eine Möglichkeit, Problemen und Auswirkungen der Forschungs- bzw. Promotionsförderung entgegenzutreten. Dies ist auch für die Profilbildung der Wissenschaft Sozialer Arbeit tauglich.
Es gibt erste Überlegungen zur Gestaltung weiterer Follow-Ups der Tagung, etwa eine Kombination von digitalen bundesweiten und analogen regionalen Arbeitstreffen von Praxis, Hochschulen und Promovierenden.
Welche Ideen oder vielleicht sogar bestehende Praxen von Austauschformaten verschiedener Akteur:innen der Sozialen Arbeit finden sich in der Leser:innenschaft dieses Blogs? Wir freuen uns über Ideen und Anregungen in den Kommentaren zu diesem Beitrag!