„Draußen sterben die Leut‘“

Ob man aus der Perspektive eines „langen Sommers der Migration“ (Sabine Hess et al.) oder auch eines „kurzen Sommers der Barmherzigkeit“ (Paul Mecheril) auf das Jahr 2015 schaut – drei Jahre später scheinen die europäischen Gesellschaften weit entfernt von einer positiven Sicht auf Migration, von offenen Armen und Willkommen.

„Draußen sterben die Leut‘“, so hat die taz am 03.07.18 getitelt. Wir sind in einer Situation, in der selbst die zivile Seenotrettung der NGOs von der Wucht der europäischen Staatsmächte getroffen wird. Sie werden angegangen, lahmgelegt und angeklagt, mit dem Ziel sie systematisch davon abzuhalten, Leben zu retten, mit dem Ziel den zivilgesellschaftlichen Mut auszuschalten und mit dem Ziel, die Menschen sterben zu lassen.

Und zugleich und ganz nach innen gerichtet, soll das Recht, Rechte zu haben (Arendt), sterben. Der Koalitionskrach zwischen CDU/CSU bzw. zwischen Herrn Seehofer und Frau Merkel stellt den vermeintlichen Höhepunkt im „Asylstreit“ dar. Was jetzt in der Diskussion um Transitzentren als neu und Eskalation daherkommt, ist aber schon seit Jahren gemeinsame politische Linie und Realität der Parteien, unter dem Strich nun eben realisiert mit verteilten Rollen von bad guy und good woman. Es setzt die Linie der migrationspolitischen Maßnahmen fort, die unter der Merkel-Regierung verabschiedet wurden, der Ausbau von Exklusionen und von rassistischer (Infra)Struktur findet in der absurden Debatte um Transitzentren seinen traurigen Höhepunkt. Naja, bestenfalls ist es der Höhepunkt, denn wir wissen ja nicht, was noch kommen wird. 

Und dabei geraten andere Themen im Kontext Flucht völlig aus dem Blick. Einige, die auch für die Soziale Arbeit folgenreich sind, möchte ich hier benennen: 

1. Die tatsächliche, oft hochprekäre bis aberwitzige Situation in der sich viele Geflüchtete in der Bundesrepublik befinden.

2. Der postkoloniale Habitus, in dem sich deutsche Politik wie selbstverständlich bewegt. 

3. Die Belastungen, in die Sozialarbeiter_innen und freiwillig Engagierte getrieben werden – und zwar nicht durch die geflüchteten Menschen, sondern aufgrund der massiven Rigidität der Asylpolitik, der Engstirnigkeit und der engen Auslegung in Entscheidungen über das Bleiben, über die Arbeitsaufnahme usw., selbst in Fällen, in denen es genügend Spielräume gibt. Was 2015/2016 auch an unkonventionellen Lösungen möglich war, hat sich heute häufig wieder in den alten Modus behäbiger Bürokratie und engstirniger Auslegung zurechtgeruckelt.

4. Die Zunahme von Rassismus und von rechtsextremistisch motivierter Gewalt und Einstellungen. Es ist Folge genau jener Politiken, die das, was öffentlich sagbar und vernehmbar ist, in den letzten zwei Jahren und verstärkt in den letzten Monaten extrem nach rechts verschoben hat. 

 

Ein Beispiel, in dem diese vier Punkte sich in der Geschichte einer Person widerspiegeln, ist der Fall einer jungen Düsseldorferin: 

Zu1. Die junge Frau, die, 2015 aus Albanien geflüchtet, in einer Containerunterkunft in Düsseldorf lebt und ihren Bruder, der eine Behinderung hat, versorgt, hatte eine Ausbildung zu Altenpflegerin begonnen. Im Nachhinein wurde behördlich festgestellt, dass sie wohl nach dem Stichtag 31.08.2015 registriert worden war. Als sie im Juli 2015 nach Deutschland kam, waren die Behörden voll und die Schlangen lang. Für eine Person aus einem so genannten „sicheren Herkunftsland“ wird dies, so will es das Integrationsgesetz, zum Grund, sie aus der Ausbildungsduldung auszuschließen. Die Konsequenz für sie: Sie musste die Ausbildung umgehend beenden. Statt einer zumindest für einige Jahre gesicherten Zukunft, droht ihr nach drei Jahren im Container Deutschland mit nahezu perfekten deutschen Sprachkenntnissen und mit einer begonnenen Ausbildungsstelle nun endgültig die Abschiebung.

Zu 2. Die Antwort von Jens Spahn auf die Mangelsituation an Pflegekräften sieht indes vor, junges Personal, das in Albanien ausgebildet wurde, nach Deutschland zu rekrutieren, denn „dort ist die Ausbildung häufig besser, als wir denken“, wie in der Welt vom 01.07.18 von Herrn Spahn zu vernehmen ist. Ob wir das nun als Brain-Drain oder als Global Care Chain bezeichnen, die Selbstverständlichkeit mit der „wir“ die einen anwerben und die anderen nicht ausbilden und zudem noch abschieben zeigt eine unfassbar selbstverständliche Haltung der Überlegenheit, aus der heraus „wir“ uns aussuchen, wen und was „wir“ wollen. 

Zu 3. Gleichzeitig setzt sich der Arbeitgeber (in dem Fall die Caritas) für die junge Frau ein und versucht, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die noch bleiben, um ihr das Bleiben und eine Fortsetzung der Ausbildung zu ermöglichen. Statt also einen Menschen mit Motivation für die Pflege alter Menschen in der Einrichtung zu haben, muss Soziale Arbeit die Grundlage wiederherstellen, überhaupt arbeiten zu können.  

Zu 4. Das direkte Nachbarhaus der Containerunterkunft, in der die junge Frau nun auf ihre Abschiebung warten muss, ist demonstrativ (und nicht nur zu Zeiten der WM) mit riesigen Deutschlandfahnen bestückt.

Insgesamt ist es wichtiger denn je, dass wir das politische Mandat Sozialer Arbeit ernst nehmen. Wir müssen sie als eine gesellschaftliche Kraft positionieren, die nah am Thema Flucht, an den Menschen und an den Folgen migrationspolitischer Entscheidungen ist. Es ist eigentlich nie, und jetzt gerade nicht, die Zeit dafür, in aller Bescheidenheit nur seine Fallberatungen zu machen. Nicht „nur“ die Geflüchteten sind betroffen, es sind wir alle. Es ist die Solidarität, die untergraben werden soll, wie es die Angriffe auf die zivile Seenotrettung nun in aller Deutlichkeit zu Tage bringt. Und es ist auch Soziale Arbeit mit ihren Grundprinzipien, die direkt angegangen wird. Vermehrt lassen sich zur Zeit Vorstöße direkter politischer und behördlicher Einflussnahme auf die Tätigkeiten der Sozialarbeiter_innen und damit einhergehende Beschränkungen der Grundprinzipien Sozialer Arbeit, zeigen. So z.B. im Schreiben des bayrischen Sozialministeriums an die Asylberatungsstellen, ihre Rechtsberatung auf das Ziel der „freiwilligen Rückkehr“ auszurichten – ansonsten drohe der Entzug der Mittel. Es sind die Versuche des Entzugs von Rechten und Aufgaben Sozialer Arbeit, und der Einschränkung des Personals gerade im Bereich Flucht. Es sind die Versuche der Indienstnahme Sozialer Arbeit für ordnungspolitische Zwecke, wenn die Polizei Sozialarbeiter_innen auffordert, mit Informationen zur Abschiebung ihrer Adressat_innen beizutragen.

Die gesellschaftlichen Kräfte, die für eine solidarische und soziale Gesellschaft stehen, werden, und das ist die gute Nachricht, gerade wieder sichtbarer. Sie analysieren die vorhandene Situation wachsam, nutzen Spielräume und kämpfen für erweiterte Spielräume. Ich freue mich sehr über die vielen Stellungnahmen gegen rigide nationale und europäische Politiken (die vorgeblich in „unserem Namen“ gemacht werden) und für humane Gesellschaften, die den Rechten eines jeden Einzelnen und den Menschenrechten ihren Stellenwert beimessen. Ich freue mich über die vielen alten und neuen gesellschaftlichen Stimmen, die sich gerade in dieser Situation formieren, neu zusammenschließen, und über die die alltäglichen solidarischen Praxen in Willkommensinitiativen, Schulen und anderswo. Ich freue mich über Protestbündnisse wie die Seebrücke, die Solidarity Cities, die vielen migrantischen Selbstorganisationen. Auch die Soziale Arbeit ist involviert und hat auch aus ihren Dachorganisationen heraus fachliche und politische Stellungnahmen formuliert, wie die Positionierung der DGSA, die direkt an die Politik appelliert. All das sind notwendige Zeichen für die Gesellschaft, dass es Rechte und Werte gibt und dass man nicht aus der Defensive heraus alles ertragen muss. Es ist eben nicht die Zeit, leise zu sein. 


Prof. Dr. Susanne Spindler