Warum warten wir in unseren Seminaren in Studiengängen
Sozialer Arbeit eigentlich auf kollektives Stöhnen, wenn wir über Theorien
sprechen? Warum reproduzieren wir damit selbst immer wieder die Geschichte des
Gaps zwischen Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit? Immer wenn wir uns
theoretisierend mit Sozialer Arbeit auseinandersetzen, macht das Spaß: in der
Lehre ebenso wie in der Forschung, zusammen mit Studierenden und mit
Kolleg*innen. Warum? Weil wir miteinander im Gespräch sind, weil wir gemeinsam
etwas entwickeln und erleben, dass uns diese Auseinandersetzung weiterbringt im
Nachdenken darüber, was Soziale Arbeit ist.
Theoretisieren macht Spaß
Mit Studierenden im 7. Semester des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit diskutiere ich (Rebekka Streck) verschiedenste Definitionen Sozialer Arbeit. Ansätze Sozialer Arbeit von Staub-Bernasconi und Thiersch, über Winkler bis hin zur viel zitierten Definition der IFSW, die eher einem Potpourri an ‚großen Begriffen‘ gleicht, als einer theoretischen Fassung dessen, was Soziale Arbeit ist. Oder besser, sein soll? Denn diese Fassungen Sozialer Arbeit (und das ist nur ein kleiner Ausschnitt von dem, was in Lehrbüchern zu Theorien und Methoden Sozialer Arbeit benannt wird), scheinen häufig mit Situationen Sozialer Arbeit, wie sie sowohl die Studierenden als auch wir in der Praxis erlebt haben, nicht viel zu tun zu haben. Die Praxis ist neben den hehren sozialpolitischen, subjektorientierten oder dialogischen Ansprüchen geprägt von Zeitdruck und Ressourcenknappheit, Eigenwilligkeit der Akteur*innen, institutionellen Möglichkeiten und Begrenzungen und vielem mehr. Spaß macht, mit den Studierenden die unterschiedlichen Facetten der Definitionen zu entdecken und ihnen den wunderbaren Reichtum an Perspektiven auf Soziale Arbeit zugänglich zu machen. Spaß macht, sie so auch immer wieder zu Sichtweisen und Bewertungen ihrer Praxiserfahrungen aufzufordern, sie zum Nachdenken anzuregen. Spaß macht auch herauszufinden, wo das eine im anderen versteckt, verdeckt und entdeckt werden kann.
In der Begleitung der Studierenden während der Praxisphasen versuche ich (Ursula Unterkofler) mit den Studierenden zu verstehen, was an Praxissituationen, die sie erlebt haben, typisch ist für Situationen Sozialer Arbeit. Die Studierenden dokumentieren ihre Situationen in Form von Beobachtungsprotokollen. Diese dienen als Grundlage, Situationen im Seminar nachzuspielen. Wir versuchen, durch ethnografisches Spiel die Situationen in ihrer kognitiven, emotionalen und normativen Komplexität aufzubrechen und Zugang zu ihnen zu finden. In der anschließenden Reflexion beschreiben und interpretieren die Studierenden die Situationen, und allein dadurch, dass sie sie in Begriffe fassen, beziehen sie sich auf Theorie. Begriffe wie Alltag, Macht oder Anerkennung bekommen so konkrete Bedeutung, da sie an (eigene) Handlungsvollzüge geknüpft werden. Spaß macht, dass die Studierenden ihr theoretisches Vorwissen neu entdecken bzw. es als relevant entdecken. Spaß macht, aus der Rolle der Wissensempfänger*innen im Praktikum herauszutreten und eigene Kritik zu fundieren. Spaß macht auch, zu sehen, dass in Situationen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern – wie verschieden sie auch sind – ähnliche Phänomene aufscheinen, in Bezug auf die Handlungsebene ebenso wie auf die strukturelle Rahmung von Situationen.
Durch solche Verknüpfungen zwischen Praxiserfahrung und theoretischer Rahmung unternehmen wir Versuche, uns dem anzunähern, was Soziale Arbeit ist. Aber geht es wirklich darum zu klären, was Soziale Arbeit ist? Was das angeht, wurden wir kürzlich produktiv irritiert. Im hessischen Promotionszentrum Soziale Arbeit in Wiesbaden diskutierten wir mit Promovend*innen über das Wissenschaftsverständnis, das unserem Buch „Doing Social Work“ zugrunde liegt. Marcel Schmidt merkte an, dass er in vielem Karl Popper nicht folge, dass dieser aber in seinen Lehrveranstaltungen „Was ist“-Fragen abgelehnt hat. Sie seien essentialistisch. Sie vereinfachen, entkontextualisieren, verdinglichen.
Doing Social Work – wie wird Soziale Arbeit hergestellt?
Wir fragen deshalb, wie Soziale Arbeit hergestellt wird. Diese Perspektive nehmen wir in unserem Buch „Doing Social Work“ ein, das wir zusammen mit Kathrin Aghamiri und Anja Reinecke-Terner herausgegeben haben. Mit dem heuristischen Begriff des Doing Social Work blicken wir auf Situationen Sozialer Arbeit als interaktive Konstruktionsleistung und konzeptualisieren damit, was wer denn mit wem in welchem Kontext unter welchen Bedingungen tut. Wir verbinden die oben benannten Zugänge, indem wir uns Situationen Sozialer Arbeit anschauen und fragen, wenn da Soziale Arbeit entsteht, was macht den Herstellungsprozess und dessen situatives Produkt ‚Soziale Arbeit‘ aus? Um eben dieses Entstehen von Sozialer Arbeit in der Praxis in den Blick zu bekommen, haben wir in dem Buch unterschiedliche ethnografischen Studien versammelt und deren Ergebnisse verglichen. Wie schon in unserer gemeinsamen Arbeit mit dem Datenmaterial unserer Dissertationen, haben wir ähnliche Phänomene in den unterschiedlichen Studien gesehen und –theoretisieren macht Spaß – in Kategorien formuliert. Kategorien, die versuchen zu fassen, wie das Handeln der Akteur*innen auf den Kontext Bezug nimmt: So müssen Sozialarbeiter*innen fortwährend in Ungewissheit entscheiden wenn sie überlegen, wie sie Risiken beurteilen, dabei Regelorientierung und individuelle Falleinschätzung abwägen und schließlich mehr oder weniger maßgeblich in ein Geschehen eingreifen. Nutzer*innen und Sozialarbeiter*innen bespielen Diffusitäten der sozialarbeiterischen Handlungssituation, die durch (auch) alltagsnahe Tätigkeiten oft nicht explizit als professionelle Interaktion erkennbar sind. Rollen oder Interaktionsregeln erscheinen oft verhandelbar und müssen ausgelotet werden. Zugleich, in Interaktionen, (be)nutzen Sozialarbeiter*innen Differenzkategorien, um Situationen zu typisieren, Hierarchien herzustellen oder Aus- und Einschluss in Institutionen Sozialer Arbeit zu begründen. Und schließlich schlägt sich Alltägliches disziplinieren vor allem in den Situationen durch, die nicht explizit als sozialarbeiterisches Handeln gerahmt werden, wie Essen oder Arbeiten, in denen sich das Herstellen von Ordnung im Sinne normgerechten Verhaltens als vorrangiges Ziel sozialarbeiterischer Intervention zeigt.
Mit diesen ersten Kategorisierungen möchten wir eine Theorie jenseits aller „Wünschbarkeit oder Nicht-Wünschbarkeit“ (Schütze) auf den Weg bringen, die versucht das auf den Punkt zu bringen, was Akteur*innen alltäglich tun. Damit werfen wir – zugegebenermaßen etwas hemdsärmelig – einem Großteil der als solche gelabelten und ständig wieder reproduzierten (großen) Theorien Sozialer Arbeit vor, sich mehr mit dem ‚Soll‘ als mit dem ‚Ist‘ zu beschäftigen. Eben dadurch entstehen Definitionen, die eher vernebeln als klären und insbesondere für Praktiker*innen wenig Anknüpfungspunkte bieten – außer zu erkennen, dass sie all die hehren Ziele praktisch nicht erfüllen. Die von uns konstruierten Modi der Herstellung Sozialer Arbeit sind sicher nur ein Anfang. Sie sollen diskutiert, verglichen, weiterentwickelt und verworfen werden. Wir möchten damit kein Gerüst einbetonieren, sondern dynamische Begriffsnetzwerke auf den Weg bringen. Trotz dieser Vorläufigkeit machen wir die Erfahrung, dass unsere Herangehensweise und die Kategorien zur Diskussion anregen. Das erkenntnistheoretische Dilemma (das war ein Thema der Diskussion im Promotionszentrum Soziale Arbeit in Wiesbaden) können auch wir nicht umgehen, dass wir immer schon einen Begriff von etwas haben müssen, um es zu erkennen (und ethnografisch zu beschreiben). Somit rückt in den Fokus unserer Betrachtung und Theoretisierung (nur) das, was wir vorher schon als Soziale Arbeit deuteten. Genau daher wünschen wir uns Diskussionsbeiträge, Studien, Kritik, die ergänzen, konkretisieren, den Fokus verschieben, neu sortieren, wiederlegen. Denn zu fragen, wie Soziale Arbeit hergestellt wird, macht nicht nur Spaß, es scheint auch bei praktisch tätigen Sozialarbeiter*innen Zustimmung zu ernten. Wir hören ‚ja, das kenn ich auch‘ oder ‚dazu fällt mir eine Situation ein‘. Für Diana Bruski, erfahrene Sozialarbeiterin, eröffnet die Perspektive, Theorie von der Praxis aus zu denken, den Blick auf die ‚Räume dazwischen‘, den Blick auf ihre alltäglichen Praxen zwischen den großen Ansprüchen und den strukturellen Begrenzungen.
Einladung zur gemeinsamen Arbeit an einer dynamischen Theorie Sozialer Arbeit
Unser Ansatz, unser Buch ist als Einladung zur Diskussion zu verstehen: darüber, welchen Mehrwert empirische Forschungsergebnisse für die Theoriedebatte haben; wie empirisch Vorfindbares und theoretische Beschreibung zusammenhängen; wie legitime und gehörte Theorien zu Stande kommen (dürfen) und von wem sie formuliert werden; welche (verschiedenen) Arten von Theorien wir in der Sozialen Arbeit brauchen, und welche uns wofür nützen; welche Distanz oder auch Nähe zur Praxis nötig ist, um theoretische Strukturen zu erkennen und wie Theorien die Praxis bereichern. Vor allem möchten wir aber bestehende (und zukünftige) Ergebnisse aus empirischen Studien – gleich welcher Methodologien, Methoden, Forschungsstategien sie sich bedienen – zusammentragen und versuchen, diese zueinander in Bezug zu setzen. Ist es möglich ein Netzwerk von Kategorien zu spinnen, die auf unterschiedlichsten empirischen Ergebnisse basieren? Ist es möglich, so gemeinsam eine Theorie Sozialer Arbeit entstehen zu lassen, die Praxis Sozialer Arbeit dynamisch und prozesshaft fasst, laufend weiter entwickelt werden kann und die Diskussion in Praxis und Wissenschaft anregt?
Ein Ort hierfür ist die Jahrestagung des Netzwerkes Rekonstruktive Soziale Arbeit am 22. und 23. November 2019 in Hannover. Unter dem Titel „Was Soziale Arbeit (aus)macht“ laden wir ein zum Präsentieren, Diskutieren, Vergleichen, aufeinander Beziehen von Forschungsergebnissen, kurz: zum Mitmachen.
Rebekka Streck und Ursula Unterkofler