Die hohe Aufmerksamkeit dürfte somit sowohl der technischen Finesse von ChatGPT als auch den Berichten geschuldet sein, die darlegen, welche Aufgaben ChatGPT bis dato (weitestgehend) mit Bravour gemeistert hat. Im Netz sind bereits Listen mit den besten „prompts“ (to prompt = u.a. soufflieren) für ChatGPT zu finden, die für entsprechendes Erstaunen sorgen. Hinzu kommen erste Einschätzungen, die große Herausforderungen für die gegenwärtige Lehr-/Lernkultur diskutieren. Unter anderem gibt es bereits in anderen Disziplinen Empfehlungen, ChatGPT gezielt für einzelne Teile von Hausarbeiten einzusetzen. Insbesondere letztere und auch Abschlussarbeiten geraten hierbei in den Fokus, deren Erarbeitung plötzlich sehr viel einfacher erscheint. Ob ein derartiges Vorgehen auch für Soziale Arbeit tauglich sein kann, dürfte Gegenstand entsprechender Diskurse werden.
Was bedeutet das zum gegenwärtigen Zeitpunkt für Soziale Arbeit und insbesondere die angesprochenen Lehr-Lern-Settings? Die Sorge vor Betrugsszenarien ist bei den Diskussionen im Netz unverkennbar. Wie können Lehrende noch sicherstellen, dass eine Hausarbeit nicht von ChatGPT verfasst worden ist? Genau hier stellen sich aus Sicht der Fachgruppe Soziale Arbeit und Digitalisierung folgende Fragen: Geht es uns zukünftig darum, dass Studierende ohne die Unterstützung der KI bspw. die Bedeutung der Lebensweltorientierung für ein bestimmtes Handlungsfeld beschreiben können? Oder werden sich Lehr-, Lern- und Prüfungssettings in Zukunft derart wandeln, dass wir den Einsatz der KI nicht nur tolerieren, sondern fordern, um Studierende auf die ebenso digital gewandelte Berufspraxis vorzubereiten? Damit ginge einher, sich auch mit den Grundzügen solcher Technologien auseinanderzusetzen.
Die stärkere Orientierung an Outcomes sowie der sogenannten „Shift from Teaching to Learning“ im Zusammenhang mit dem digitalen Wandel wird seit vielen Jahren diskutiert (siehe u.a. Mayrberger 2010: 309; Mürner, Polexe 2014: 3). Nur erfordert die Fokussierung auf den Outcome sowie den dahinführenden Prozess entsprechende Rahmenbedingungen, insbesondere mit Blick auf die Ausstattung und Verfügbarkeit von Ressourcen, die keineswegs vorausgesetzt werden können. 18 SWS Lehrdeputat sowie aus allen Nähten platzende Hörsäle sind nur einige der Faktoren, die bisweilen verhindern, Personen möglichst individuell zu begleiten und auf Lernprozesse zu fokussieren. Daran soll verdeutlicht werden: Die aktuellen Diskussionen über das Ende der derzeitigen Prüfungskultur sind vermutlich nicht nur der neuen Technik geschuldet. Die zugrundeliegenden Strukturen sind gleichermaßen herausfordernd. ChatGPT könnte hier wiederum die Metapher zugeordnet werden, die während der Pandemie bereits bemüht wurde: Es gibt wahlweise einen Brennglas- oder Kaleidoskop-Effekt, der sichtbar macht, welche Facetten derzeitiger Lehr-Lern-Settings bereits länger unter den Rahmenbedingungen leiden.
Ein sachlicher Blick auf ChatGPT dürfte zunächst helfen, zumal wir derzeit vermutlich im „Hype Cycle“ unterwegs sind. Dieser führt vor Augen, was bei der plötzlichen Etablierung neuer und beeindruckender Technologien von statten geht (Linden und Fenn 2003). Eine neue Technologie kommt auf den Markt, sorgt zunächst für unterschiedlichste Einschätzungen in der Bandbreite von Gefahren bis Potenziale und führt letztlich bestenfalls auf das „Plateau of Productivity“, auf welchem sich Szenarien entfalten, die einen reflektieren Einsatz zum Ziel haben. Ganz so simpel, wie in dem Modell aus dem Jahr 1995 aufgezeigt wird, ist es im aktuellen Fall nicht, da vieles parallel passiert und Diskurse sehr schnell und in viele unterschiedliche Richtungen laufen. Das bedeutet aus Sicht der Sozialen Arbeit vor allem eines: Es sollte der Versuch unternommen werden, sich nicht vom „Hype“ anstecken zu lassen, wenngleich andernorts von einem „magischen Moment“ gesprochen wird. ChatGPT scheint in der Tat ein Meilenstein zu sein. Das Ende der bisherigen Lehr-Lern-Kultur in Folge voranschreitender technologischer Entwicklung ist aber wohl nicht das Resultat.
Nichtdestotrotz sind Lehrende herausgefordert, mit neuen Technologien umzugehen, sie für unterschiedliche Zwecke und Kontexte zu reflektieren und darauf aufbauend Lösungs- oder Denkansätze zu finden. Die Diskussion, die über das Ende der Lehr-Lern-Kultur geführt wird, ist dann somit weniger eine technisch induzierte, als vielmehr eine strukturell bedingte – und diese gilt es anzugehen. Aus der Mathematik- und Informatikdidaktik gibt es die Anregung, dass ein Tool wie ChatGPT beim Lernen lediglich unterstützen und nicht den Lernprozess abnehmen sollte. Außerdem sollte der Einsatz eines solchen Programms im Horizont einer verteilten Verantwortung zwischen Mensch und Maschine stehen. Das lässt sich an einigen Beispielen illustrieren: Der Taschenrechner hat seinen Weg in die Schule gefunden und Mathematik-Unterricht findet trotzdem noch statt. MOOCs haben nicht das Ende der Präsenzlehre bedeutet. Genauso wenig ist davon auszugehen, dass ChatGPT das Ende der Hausarbeit bedeuten wird, wenn Strukturen dafür geschaffen werden, damit diese stärker am Lernprozess orientiert sind. Für Soziale Arbeit lohnt sich demnach auch ein Blick in die Disziplinen hinein, die KI-Technologien näherstehen, um von dort aus eigene Einordnungen vorzunehmen. Wir plädieren als Fachgruppe Soziale Arbeit und Digitalisierung für sachliche Auseinandersetzungen, eine zugewandte Grundhaltung, die Aneignung grundlegender Kompetenzen und eben jene Diskurse über die aktuelle Lern- und Lehrkultur.
Ein Ort hierfür kann die gemeinsame Tagung der Fachgruppen Soziale Arbeit und Digitalisierung, Ethik und Soziale Arbeit sowie Soziale Arbeit in der Lehre am 24.11.2023 in Hamburg sein. Sie trägt den Titel „Wie und was wollen wir in 2030 lehren? Ethische Fragen, Folgen und Herausforderungen der Digitalisierung (in) der Lehre der Sozialen Arbeit“. Der Call for Papers bietet Gelegenheit, um ChatGPT eine Plattform zu geben und Diskussionen zu führen, die sich stärker dem beschriebenen „Plateau of Productivity“ annähern.
Adrian Roeske – Co-Sprecher der Fachgruppe Soziale Arbeit und Digitalisierung
Michelle Mittmann – Co-Sprecherin der Fachgruppe Soziale Arbeit und Digitalisierung