Bundesteilhabegesetz und Reform der Eingliederungshilfe - menschenrechtliche Implikationen und zukünftige Aufgaben für die Soziale Arbeit

Die Menschenrechte gelten für alle Menschen. Ist das, wie Jeremy Bentham (1748-1832) angesichts der französischen Menschenrechtsdeklaration schimpfte, nichts weiter als „Brüllen auf Papier“? Wissen wir doch zu gut, dass die Menschenrechte zu keiner Zeit, an keinem Ort der Welt vollständig gewahrt werden und damit die Würde der von Menschrechtsverletzungen betroffenen Menschen stets nicht geachtet wird. Deshalb könnte man sich auch fragen, warum es neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch weitere Spezialkonventionen geben muss, etwa die für Geflüchtete (1951), für Frauen (1979), für Kinder (1989) oder für Menschen mit Beeinträchtigungen. Insbesondere für vulnerable Gruppen – für Kinder, Frauen und für Geflüchtete –, und zuletzt mit dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (Behindertenrechtskonvention) von 2006 gerade auch für Menschen mit geistigen, körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, ist jedoch die Feststellung zutreffend, dass ihre Rechte in besonderem Maße gefährdet sind.

[Exkurs: In einem modernen Verständnis von Behinderung, wie sie die Behindertenrechtskonvention ausdrückt und wie sie auch in die Neufassung des sozialrechtlichen Behinderungsbegriffes (§ 2 SGB IX i.d.F. vom 23.12.2016) eingeflossen ist, entsteht diese „aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren […], die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“. Daher wird im Folgenden von Menschen mit Beeinträchtigungen dann gesprochen, wenn die individuelle Beeinträchtigung, resultierend aus einer i. w. S. Gesundheitsstörung, im Vordergrund der Beschreibung steht. Zu einer Behinderung wird diese Beeinträchtigung, wenn sie auf ungünstige Kontextfaktoren trifft, also den in § 2 SGB IX genannten Barrieren.]

Für Menschen mit Beeinträchtigungen liegt die Gefährdung ihrer Rechte u.a. darin begründet, dass sie durch ihre persönliche Konstitution und den daraus folgenden Einschränkungen besonders stark in ihrer Rechtedurchsetzung gefährdet sind. Dies wirkt sich zudem direkt auf ihre Teilhabe aus, und zwar nicht nur, aber wohl sehr stark, weil sie auf eine Welt voller Barrieren treffen. Dabei sind die materiellen Barrieren die ersten, an die gedacht wird: an Bordsteine oder andere Schwellen im öffentlichen Raum, an fehlende Rampen oder Absenkvorrichtungen öffentlicher Verkehrsmittel, an zu wenig barrierefreien Wohnraum etc. Aber diese Barrieren betreffen zunächst „nur“ vor allem körperlich eingeschränkte Personen. Mindestens genauso so schwer wiegen jedoch die mentalen Barrieren im Umgang etwa mit geistig oder psychisch beeinträchtigten Menschen, denen eine Teilhabe an Bildung, Arbeit und Freizeit nicht zugetraut, mit Ablehnung oder zumindest Unsicherheit begegnet wird und die damit auf eine ganz andere soziale oder kulturelle Weise diskriminiert werden. Und Diskriminierung meint an dieser Stelle nichts Anderes als Benachteiligung aufgrund bestimmter Merkmale, wie es auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz in § 3 Abs. 1 beschrieben ist: „Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes [z.B. einer Behinderung, D.R.] eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ Auch in der bereits erwähnten Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen heißt es in Artikel 2: „Diskriminierung aufgrund von Behinderung“ ist „jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird.“

Mit der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention bekräftigen die unterzeichnenden Staaten, dass die Menschenrechte auch für Menschen mit Beeinträchtigungen wirksam durch- und umgesetzt werden müssen, und drücken in der Präambel ihre Besorgnis darüber aus, dass „sich Menschen mit Behinderungen trotz dieser verschiedenen Dokumente und Verpflichtungen in allen Teilen der Welt nach wie vor Hindernissen für ihre Teilhabe als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sowie Verletzungen ihrer Menschenrechte gegenübersehen“.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention bereits 2008 ratifiziert und damit ihre Gültigkeit für deutsches Recht anerkannt. Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen“ vom 23.12.2016 (Bundesteilhabegesetz) hat der deutsche Gesetzgeber nun weitere Schritte eingeleitet, die verschiedenartigen Barrieren zu beseitigen, die die in dem eben beschriebenen Sinne „be-hinderten“ Menschen in ihrer Teilhabe unterstützen sollen.

In der Gesetzesbegründung (Drucksache 18/9522) heißt demnach auch selbstkritisch: „Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei den Vereinten Nationen hat der Bundesrepublik Deutschland in seinen „Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands“ vom 13. Mai 2015 eine Vielzahl von Handlungsempfehlungen zur weiteren Umsetzung der UN-BRK gegeben. So soll die Bundesrepublik Deutschland unter anderem

„– die gesetzliche Definition von Behinderung mit den allgemeinen Grundsätzen und Bestimmungen der UN-BRK in Einklang bringen,

– ausreichende Finanzmittel verfügbar machen, um die Deinstitutionalisierung und selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen zu fördern,

– die Voraussetzungen für einen inklusiven Arbeitsmarkt schaffen,

– eine Prüfung des Umfangs vornehmen, in dem Menschen mit Behinderungen ihr persönliches Einkommen verwenden, um ihre Bedarfe zu decken und selbstbestimmt zu leben, und

– Menschen mit Behinderungen soziale Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die ihnen Inklusion, Selbstbestimmung und die Entscheidung, in der Gemeinschaft zu leben, ermöglichen.“

Ob und inwieweit der vom Ausschuss der Vereinten Nationen aufgelistete „Mängelkatalog“ (siehe für weitere Problembereiche und Empfehlungen den Gesamtbericht „Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands“ vom 17.04.2015) durch das BTHG umgesetzt werden kann bzw. soll, bleibt offen. Jedenfalls zeigten die Proteste kurz vor der letzten Beratung im Bundestag durch Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und der Betroffenen vermeintliche Probleme, wie etwa den „Zwang“ zum sog. „Poolen“ (Zusammenlegen) von Leistungen durch das gemeinsame Beauftragen eines Leistungserbringers von einzelnen Leistungsberechtigkeiten, die unklare Abgrenzung von Pflege und Eingliederungshilfe sowie auch bzgl. der zunächst anvisierten Neufassung der Bestimmung des Personenkreises bzw. der Leistungsberechtigung in der Eingliederungshilfe (sog. 3 bzw. von 9-Regelung). Ohne ins Detail gehen zu können, sei so viel gesagt: Wenn schon vor Inkrafttreten eines Gesetzes, das von der zuständigen Sozialministerin Andrea Nahles als eines „der großen sozialpolitischen Reformen dieser Legislaturperiode“ bezeichnet wurde, derart einmütige Kritik geäußert wird, dann lässt das weitere Probleme erwarten.

Unabhängig von immanenten Problemen, die das neue Gesetz produziert, bleibt doch eines weiter von Bedeutung: Die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesländer und alle Kommunen müssen sich noch gewaltig anstrengen, die Lebensbedingungen von im oben genannten Sinne „be-hinderten“ Menschen zu verbessern.

Soziale Arbeit kann sich in diesen Prozess unmittelbar einbringen:

  • Mit Bezug auf die Menschenrechte kann sie deren Einhaltung und Gewährleistung, im Sinne der Abwehrrechte wie auch der Sozialrechte, anmahnen und sollte dies, wo immer möglich tun: In den einzelnen Praxisstellen, in Verbänden, im einzelnen Kontakt mit beeinträchtigten Menschen und in der Politik- und Fachberatung.
  • Zudem kann sie nach Wegen suchen helfen, die dazu beitragen, Barrieren abzubauen. Mit ihrer besonderen Expertise für die Zusammenhänge von subjektiver Handlungsfähigkeit und gesellschaftlichen Strukturen entspricht sie ziemlich genau der „Agentur“, die das oben erwähnte moderne Verständnis von Behinderung zum Ausgangspunkt ihres Handels machen kann.
  • Mit „Empowerment“, „Person- und Sozialraumorientierung“, „Case Management“ oder auch „Advocacy“ seien nur wenige Ansätze benannt, die der Profession hier zur Verfügung stehen.

So kann Soziale Arbeit dazu beitragen, dass die Menschenreche als ganz konkrete Leitschnur für die Verbesserung der Lebenslage und Lebenssituation genutzt werden können. So wird aus dem „Brüllen auf dem Papier“ ein zwar vielleicht leises, aber beständiges „Verbessern der Realität“, auch wenn dies mitunter mühsam und kleinschrittig verläuft.


Prof. Dr. Dieter Röh, Mitglied des DGSA-Vorstands und Professor für Soziale Arbeit an der HAW Hamburg