Gender Studies seien unnütz – dies ist immer häufiger und immer lauter zu hören. Entsprechende Lehrstühle, Institute, Studiengänge und Forschungsprojekte werden zu ideologischen Kaderschmieden erklärt, in denen eine feministische Weltherrschaft vorbereitet würde, statt seriöse Wissenschaft zu betreiben. Jeder Cent öffentlicher Förderung sei einer zu viel. Tatsächlich hat die ungarische Regierung kürzlich die Gender Studies aus der Liste der zugelassenen Studiengänge gestrichen. Auch hierzulande scheint die Lobby für entsprechende Maßnahmen zu wachsen, zumindest verschafft sie sich mehr öffentliches Gehör.
Doch welche Folgen hat es eigentlich, wenn ein Berufs- und Wissenschaftsfeld wie Soziale Arbeit nicht (mehr) auf Genderwissen zurückgreift – weil dieses für obsolet erklärt wird – oder zurückgreifen kann – weil es demontiert und nicht mehr weiterentwickelt worden ist? Was passiert konkret, wenn die „Zukunftsvision einer gender-freien Wissenschaft und Praxis“ sich erfüllt?
Wir wollen dies modellhaft durchspielen an einer Fallvignette aus dem Berufsfeld der Sozialen Arbeit. Fresia Klug-Durán hat sie in einem Beitrag zur Bedeutung des Essens in der Sozialpädagogischen Familienhilfe dokumentiert, der 2009 im Sammelband „Erst kommt das Fressen! Über Essen und Kochen in der Sozialen Arbeit“ erschien (S. 85 - 97). Die Autorin schildert den Fall mit den üblichen Angaben zum Geschlecht der beteiligten Personen, was bereits widerspiegelt, dass Geschlechtszugehörigkeiten offenbar für das Fallverstehen von Bedeutung sind.
Wir schreiben diese Fallvignette vor dem Hintergrund der kritischen Debatten zu den Gender Studies um und löschen sämtliche Geschlechter-Informationen, um auszuprobieren, was dann passiert. Wie wird also die Problemsituation einer Familie, die Adressatin Sozialer Arbeit ist, ‚geschlechtsfrei‘ erzählt?
Familie Yildiz wird von zwei Fachkräften der Familienhilfe unterstützt. Der eine Elternteil hat Depressionen, zwei Kinder, sieben und zwölf Jahre alt, leiden unter psychosomatischen Symptomen, zwei weitere Kinder, 16 und 17 Jahre alt, fallen außerhalb der Familie durch Aggressivität auf und kommen zeitweise nachts nicht mehr nach Hause. Die Eltern suchen mehrmals wöchentlich nachts nach eines dieser Kinder. Auftrag der Familienhilfe ist zunächst, sich einen Einblick in das Familienleben zu verschaffen und Hypothesen für das nächtliche Fernbleiben der Jugendlichen zu entwickeln. Erst im Verlauf der Hilfemaßnahme werden Hinweise auf eine psychische Erkrankung auch des anderen Elternteils sichtbar.
Die eine Fachkraft der Familienhilfe kommt einmal in der Woche vormittags zur Familie nachhause, um mit dem einen Elternteil zu sprechen. Die Kinder sind in dieser Zeit in der Schule. Der andere Elternteil, der im Schichtdienst arbeitet, ist während dieses Besuchs entweder an der Arbeit oder er schläft. Gegen Ende des Termins kommen einzelne der Kinder von der Schule zurück, der andere Elternteil bereitet sich manchmal für die Arbeit vor. Die Gespräche mit dem einen Elternteil drehen sich um die Familie, Erziehung der Kinder und seinen Sorgen. Sie finden in der Küche statt, während man gemeinsam frühstückt und er später seine alltäglichen Küchenarbeiten erledigt wie Geschirrreinigung und Kochen. Der andere Elternteil toleriert die Anwesenheit der Fachkraft nur unter diesen Bedingungen.
Die andere Fachkraft der Familienhilfe betreut eine der jugendlichen Kinder der Familie. Wenn sie sie zuhause zu einem Termin abholt, hält sie sich bewusst einen Moment in der Familie auf, um Gelegenheiten für Gespräche zu schaffen. Dem anderen Elternteil ist sie suspekt. Weil er sich jedoch nicht mehr zu helfen weiß bei seinen Kindern, akzeptiert er sie. Die kurzen Zusammentreffen nutzt dieser Elternteil jedes Mal, um die Fachkraft aufzufordern, mit ihm scharfe Paprika zu essen. Er bereitet die Paprika dann auf dem Elektrogrill zu und betont dabei, wie gut seine Paprika sei und wie hervorragend er sie zubereite. Die Aufforderung wird von Mal zu Mal provokanter: „Bist du stark genug für meine Paprika? Bist du ein Mensch? Wie viele Paprika isst du? ... ha, ha! Ich esse mehr scharfe Paprika, ...“ Auch die Kinder werden von diesem Elternteil gefragt, wer ihrer Meinung nach mehr scharfe Paprika essen könne. Die Fachkraft isst zum Ausdruck der Wertschätzung der elterlichen Zubereitungsleistung eine Paprika, lobt sie und betont ausdrücklich, dass sie wirklich sehr scharf sei und dass sie keine weitere essen könne. Der Elternteil freut sich darüber und wirkt beruhigt.
Auch ohne irgendeinen Hinweis zur Geschlechtszugehörigkeit der Akteur_innen des Falls wird deutlich, dass es hier einer Familie nicht gut geht und Handlungsbedarf besteht. Sowohl die vier Kinder zeigen Belastungssymptome als auch die Eltern. Zudem werden Spannungen zwischen den Eltern sichtbar: Das Angebot der Familienhilfe wird von beiden Elternteilen höchst unterschiedlich angenommen. Während ein Elternteil schnell ein kooperatives Arbeitsbündnis mit der für sie zuständigen Fachkraft eingeht, erlebt der andere Elternteil die Familienhilfe eher als Gefahr für die herrschende Familienordnung. Er reagiert aggressiv und versucht, die eigene Machtposition demonstrativ zu sichern. So diktiert dieser Elternteil erfolgreich die Bedingungen, unter denen die Familienhilfe überhaupt mit seinem_r Ehepartner_in arbeiten darf. Zudem inszeniert er mit der Paprika vor den Augen der gesamten Familie einen Wettkampf mit einer der beiden Professionellen, bei der diese unterliegt. Dass dieses Spiel nicht nur eine singuläre Episode ist, sondern sich jedes Mal vollzieht, wenn die Fachkraft in der Familie erscheint, verweist auf den hohen Druck, unter dem dieser Elternteil steht.
Für den Einsatz der Familienhilfe offenbaren sich damit diverse wichtige Ansatzpunkte. Zum ersten muss reflektiert werden, wie sich die Professionellen in dem elterlichen Machtverhältnis positionieren, um den beruflichen Auftrag gut erfüllen zu können. So wie es in der Fallvignette aussieht, fügen sie sich relativ reibungslos als ‚Unterlegene‘ ein. Sie lassen das Dominanzgebaren des einen Elternteils zu, während sie mit dem anderen – unterlegenen – Elternteil gut zusammenarbeiten. Dies kann funktional sein, wirft aber auch die Frage danach auf, was mit dem beruflich-strategischen Verzicht auf eine machtvolle Selbstinszenierung eventuell verspielt wird.
Zum zweiten ist darüber nachzudenken, wie für den ‚mächtigen‘, aggressiven Elternteil der Stress reduziert werden kann, um sich perspektivisch möglicherweise produktiver auf das Hilfeangebot einzulassen. Zum dritten ist schließlich auch kritisch zu fragen, warum das nächtliche Fernbleiben der älteren Kinder in der Familie mehr institutionelle und familiale Aufmerksamkeit erfährt als die psychosomatischen Leidenssymptome der jüngeren. Deuten sich hier weitere – geschwisterliche – Machtverhältnisse, bei denen Familienhilfe wachsam sein muss, um dies nicht zu reproduzieren?
Soweit die erste geschlechtsfreie Fallanalyse. Was verändert sich nun, wenn Wissensbestände der Gender Studies aktiviert werden?
In diesem Moment wird zugänglich, dass die herausgearbeiteten virulenten Macht- und Konfliktverhältnisse innerhalb der Familie und zwischen Professionellen und Familie auch mit Geschlechterordnungen zu tun haben. Erkennbar wird, dass bereits die Krisensymptome der Geschwister von Geschlechtersymboliken gezeichnet sind. Es sind nämlich die Töchter, deren Leiden sich in psychosomatischen Störungen manifestiert, und es sind die Söhne, deren Leiden sich in spektakulärer Rebellion gegen Verhaltensnormen Bahn bricht. Alle Kinder versuchen also, die bedrückenden familialen Generationenkonflikte irgendwie zu bewältigen, gleichzeitig bearbeiten sie dabei ihre hierarchischen Geschlechterpositionen: die Mädchen verhalten sich relativ still und defensiv mit ihrer Artikulation des eigenen Unwohlseins, die Jungen aktivieren sehr viel wirkungsvoller elterliche – und institutionelle – Ängste und Fürsorge. Dies alles wirft die Frage danach auf, wie den Geschwistern geschlechtskonforme, aber weniger destruktive Räume der Artikulation von Nöten eröffnet werden können.
Beim Blick auf die Eltern wird wiederum begreifbar, dass beide stark in geschlechterspezifischen Normalitätszwängen gefangen sind. Während der Mutter die Position der Hausfrau vorbehalten ist, die dem Patriarchen untersteht, muss der Vater das Geld für die Familie in belastender Schichtarbeit erwirtschaften und seine Dominanz sichern. Dies gibt der Arbeit der Familienhilfe einen weiteren Entwicklungsimpuls. Denn wenn es gilt, die Erziehungsfähigkeit der Eltern zu verbessern, muss es auch darum gehen, beiden Elternteilen soziale und geschlechtliche Anerkennung zu verschaffen, die nicht mehr an Über- und Unterordnung gebunden ist, die für beide letztlich zerstörerisch ist.
Der in diesem Fall tätige Träger der Familienhilfe hat im Übrigen ganz bewusst aus geschlechterfachlichen Gründen ein gemischtgeschlechtliches Team in die Familie geschickt: die weibliche Fachkraft soll mit der Mutter der Familie arbeiten, die männliche mit dem Sohn der Familie. Dahinter steht die Überlegung, dass bei der Mutter zu erwarten ist, dass sie sich leichter auf eine weibliche Familienhelferin einlassen kann. Dies löst sich ja auch ein. Da die Beratungssituation mit der Mutter an die vertrauten Routinen privater Frauen und Nachbarschaftskultur anknüpft, erweist sie sich für Frau Yildiz niedrigschwellig. Bei dem Sohn ist demgegenüber zu erwarten, dass das Beziehungsangebot eines männlichen Familienhelfers günstiger ist. Er ist damit davon befreit, sich als junger – also im Generationenverhältnis unterlegener – Mann gegenüber einer erwachsenen Frau als der Überlegene ausweisen zu müssen.
Gleichwohl potenziert sich aber für den Vater durch die Männlichkeit des Familienhelfers der Stress. Seine familiale Dominanzposition, die sich aus der Generationen- und Geschlechterasymmetrie nährt, ist durch den weiteren männlichen Erwachsenen im Familiengefüge gefährdet. Die neue Konkurrenz ist umso brisanter für ihn, als sein Status bereits durch die Auffälligkeiten seiner Kinder erheblich angegriffen ist. Von daher ist es letztlich der aus der Perspektive des Sohnes notwendige Einsatz des männlichen Professionellen, der dann einen ‚renitenten‘ Vater für die Soziale Arbeit hervorbringt.
Dies alles zeigt: Die Antworten dazu, wie Menschen in Schwierigkeiten in geeigneter Weise professionell geholfen werden kann, sind nicht einfach. Dies gilt auch dann, wenn Erkenntnisse der Gender Studies für die Entwicklung von Lösungen genutzt werden. Aber mit diesen Erkenntnissen werden zumindest die Möglichkeiten des Fallverstehens wie auch berufliche Handlungsspielräume erweitert, was wiederum die Chancen erhöht, die Passgenauigkeit der Praxis für die Adressat_innen zu erhöhen. Gender Studies in der Sozialen Arbeit zu nutzen bereitet also nicht den feministischen Umsturz der Weltordnung vor, sondern ist schlicht und sachlich ein Gebot qualifizierten Arbeitens – nicht mehr und nicht weniger.
Ein Kommentar der
Fachgruppe Gender der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit zum Aktionstag
#4genderstudies am 18.12.2018